Das Instrument: die Biedermeiergitarre

1 Die Torres-Gitarre als 'Urmodell' der klassischen Gitarre

Segovias’ Gitarre von Manuel Ramírez. 1912.
Segovias’ Gitarre von Manuel Ramírez. 1912.

Wenn wir aufgefordert werden, uns eine klassische Gitarre vorzustellen, haben wir unweigerlich das Bild der Gitarre vor Augen, die der spanische Gitarrenbauer Antonio de Torres (1817-1892) in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts entworfen hat. Die Torres-Gitarre ist für uns das Urmodell der klassischen Gitarre, für manche die klassische Gitarre schlechthin. Dass wir uns heute nur noch eine Grundform der klassischen Gitarre vorstellen können, ist alles andere als selbstverständlich, wenn man auf die Entstehungszeit der Torres-Gitarre zurückblickt. Das Torres-Modell war um 1860 nur eines von vielen Gitarrenmodellen in Europa. Neben den Erfolgsmodellen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - Gitarren von Lacôte, Stauffer und Panormo - gab es Wappengitarren, Bogengitarren, Gitarren mit längsovalen Schalllöchern sowie mehrsaitige Gitarren mit sieben, acht oder zehn Saiten.

Dass sich das Torres-Modell in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegenüber allen anderen Gitarrenmodellen durchsetzen konnte, lag daran, dass Francisco Tárrega (1852-1909), der Begründer der neuen spanischen Gitarrenschule, die Torres-Gitarre allen anderen Modellen vorzog. Tárregas Erben Miguel Llobet (1878-1938), Emilio Pujol (1886-1980) und Andrés Segovia (1893-1987) machten die klassische Gitarre - und mit ihr die Torres-Gitarre - durch weltweite Tourneen populär.

Genauer gesagt, machte Andrés Segovia die von Manuel Ramírez (1864-1916) und Hermann Hauser (1882-1952) weiterentwickelte Torres-Gitarre durch seine Konzerttätigkeit populär. Da er seine Gitarre für das fortschrittlichste Instrument hielt, das die bestmögliche Interpretation aller Gitarrenwerke garantierte, spielte er auf ihr nicht nur moderne Werke, sondern auch solche, die für Laute, Vihuela, Barock- oder Biedermeiergitarre komponiert worden waren. Darüber hinaus bediente sich Segovia modernster Spieltechniken, um die Gitarrenwerke der verschiedenen Musikepochen bestmöglich zu interpretieren. So finden wir in seiner Interpretation alter Gitarren- und Lautenmusik alle Merkmale, die wir mit der Spieltechnik der neuen spanischen Gitarrenschule verbinden: den eleganten Anschlag, den weichen und lyrischen Ton, das delikate Vibrato, die zarten Akkordbrechungen, das breite Spektrum der Klangfarben, die flexible Tempogestaltung und die feinen Schattierungen in der Dynamik.

Segovias Einfluss auf die Gitarrenwelt war immens. Mit seiner vollendeten Technik und Spielkultur setzte er Maßstäbe, an denen sich Gitarristen messen lassen mussten. Da die Gitarrenkunst durch Segovias Wirken neue Höhen erreichte, störte es niemanden, dass er die Musik vergangener Epochen dem Klangideal seiner Zeit anpasste und auf einem Instrument spielte, das zur Zeit der Komposition noch gar nicht existierte. Die Folge dieser Haltung war eine Uniformierung der alten Lauten- und Gitarrenmusik, die durch eine Vereinheitlichung der Spieltechnik gefördert wurde.

2 Die Wiederentdeckung der Biedermeiergitarre

Gitarre von Jean-Nicolas Grobert. ca. 1830.
Gitarre von Jean-Nicolas Grobert. ca. 1830.

Segovias Einfluss auf die Gitarristik kam in der Nachkriegszeit voll zum Tragen. Die Gitarrenwelt feierte den Aufstieg und die Anerkennung der klassischen Gitarre als Konzertinstrument. Das Repertoire der Gitarrenmusik wurde ständig erweitert. Da es relativ wenig neue Kompositionen für die Gitarre gab, wurden zahlreiche Werke der Renaissance, des Barock und der Klassik in das Gitarrenrepertoire aufgenommen und der neuen Spieltechnik angepasst.

In der übrigen Musikwelt wurden jedoch Zweifel an der These von der stetigen Aufwärtsentwicklung der Musik, der zunehmenden Perfektionierung der Spieltechnik und dem stetigen Fortschritt im Instrumentenbau laut. Langsam aber sicher setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Spieltechnik einer Epoche der jeweiligen Musik am besten gerecht wird und die Instrumente einer Epoche die besten Instrumente für die jeweilige Musik sind.

In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts befreiten die Pioniere der Originalklangbewegung die Alte Musik von der Patina des spätromantischen Orchesterklangs und ließen sie in neuem Glanz erstrahlen. In den 1980er Jahren erschlossen die Vertreter der historischen Aufführungspraxis das Repertoire der Wiener Klassik. In den 1990er Jahren wandten sie sich der Musik der Früh- und Hochromantik zu. Inzwischen widmet sich die historische Aufführungspraxis auch der Musik der Spätromantik, also jener Epoche, von der sie sich ursprünglich musikalisch abgrenzen wollte.

Die Gitarrenmusik blieb von dieser Entwicklung lange Zeit unberührt. Zu stark war die Wirkung der Persönlichkeit Segovias. Pionierarbeit leisteten in den 1970er Jahren Thomas F. Heck und Brian Jeffery. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten stellten die Musik Giulianis und Sors in den historischen Kontext. In den 1980er Jahren erschienen bei Tecla Editions Faksimile-Ausgaben der Werke Giulianis und Sors, und der Kölner Gitarrenbauer Bernhard Kresse fertigte originalgetreue Kopien klassisch-romantischer Gitarren. Nach und nach erkannte man die Vorzüge der Biedermeiergitarre für die Interpretation klassischer und frühromantischer Gitarrenmusik. Mit ihrem hellen, silbrigen Klang und ihrer schnellen Ansprache war sie das ideale Ausdrucksmittel für die Formensprache der Wiener Klassik. Musikwissenschaftler und Künstler entdeckten in der Gitarrenmusik des frühen 19. Jahrhunderts interpretatorisches Neuland, das es zu erkunden galt. Nach Segovias Tod 1987 kamen die ersten CDs mit klassischer Musik auf historischen Gitarren auf den Markt.

3 Der Begriff "Biedermeiergitarre"

Im deutschen Sprachgebrauch hat sich für die Gitarre des frühen 19. Jahrhunderts der Begriff „Biedermeiergitarre“ eingebürgert. Der Begriff ist insofern zutreffend, als die erste Blütezeit der klassischen Gitarre weitgehend mit der Epoche des Biedermeier (1815-1848) zusammenfällt. Er ist jedoch in dreierlei Hinsicht ungenau:

1. Der Begriff suggeriert, dass die sechssaitige Gitarre (im Gegensatz zur fünfsaitigen oder sechschörigen Gitarre) ein typisches Instrument der Biedermeierzeit von 1815 bis 1848 war. Tatsächlich wurden die ersten sechssaitigen Gitarrenmodelle schon um 1785 in Italien gebaut. Um 1800 war die sechssaitige Gitarre bereits ein Modeinstrument in Italien, Österreich, Deutschland und wenig später auch in Frankreich. Sie war ein Instrument der Klassik, eine „klassische Gitarre". Selbst in der Frühromantik komponierten die Gitarristen noch im Stil der Wiener Klassik.

2. Die Epoche des Biedermeier beschränkte sich auf den deutschsprachigen und skandinavischen Raum. Der Begriff „Biedermeiergitarre“ berücksichtigt nicht die Verwendung und Entwicklung der sechssaitigen Gitarre in anderen europäischen Ländern.

3) Der Begriff "Biedermeier" ist negativ besetzt. Er steht für die kleinbürgerliche Kultur der Häuslichkeit, die sich in der Restaurationszeit nach dem Wiener Kongress 1815 entwickelte. Musikgeschichtlich bezeichnet er eine musikalische Strömung neben der Romantik und bezieht sich auf die von Laien gepflegte bürgerliche Hausmusik. Dass die Gitarre in der Frühromantik nicht nur ein Laien-, sondern auch ein professionelles Konzertinstrument war, wird durch die Verwendung des Begriffs "Biedermeiergitarre" ausgeblendet.

Angesichts der Ungenauigkeit des Begriffs "Biedermeiergitarre" stellt sich die Frage nach Alternativen: Im englischen Sprachraum ist der Begriff early romantic guitar gebräuchlich. Er ist im Blick auf die beiden letztgenannten Punkte präziser, lässt aber die klassischen Wurzeln der Gitarre außer Acht. Insofern ist die Bezeichnung guitar during the Classical music era zutreffender. Sie hat sich aber nicht durchgesetzt. Da mit "klassisch" aber in der Regel nicht die Epoche der Klassik, sondern die gesamte Tradition der europäischen Kunstmusik gemeint ist, sollte man besser von "klassisch-frühromantischer Gitarre" sprechen, um die Epochenbezeichnung zu betonen. Auch der Begriff "Gitarre des frühen 19. Jahrhunderts" eignet sich zur Bezeichnung des Instrumentes, wobei hier der Zeitraum der Verwendung auf die Zeit von 1800 bis ca. 1830 eingeschränkt wird.

Im Folgenden werden daher die Begriffe "Biedermeiergitarre", "klassisch-frühromantische Gitarre" und "Gitarre des frühen 19. Jahrhunderts" für die sechssaitige Gitarre verwendet, die ihre typische Form und Besaitung um 1780 in Neapel erhielt und in der Epoche der Klassik und Frühromantik eine Blütezeit erlebte.

4 Die Merkmale der Biedermeiergitarre

Thomas F. Heck nennt in seiner Dissertation "The Birth of the Classic Guitar and its Cultivation in Vienna" (1970) sechs charakteristische Merkmale der Biedermeiergitarre: 1. Ein mit der Decke bündig abschließendes Griffbrett mit elf Bünden und drei bis sieben Deckenbünden. 2. Sechs Einzelsaiten mit einer Mensur von 59-64 cm. 3. Ein Steg mit Stegeinlage und Stegstiften. 4. Eine Decke aus Fichte oder Kiefer sowie Zargen und Boden aus Ahorn. 5. Ein flacher Boden, der entweder aus einem Stück Holz oder aus zwei zusammengefügten Hälften bestand. 6. Eine Korpustiefe von 6 bis 9 cm. In seinem Artikel "Stalking the oldest six-string guitar" (1972) nennt Heck abweichend als sechstes Merkmal die achtförmige Kopfplatte und als siebtes, äußerlich nicht sichtbares Merkmal die Deckenbeleistung. Heck betont, dass die genannten Merkmale für Gitarren aus der Zeit zwischen 1791 und 1819 gelten (Heck 1970, Bd. 1, S. 47). Ab den 1820er Jahren wurden konstruktive Veränderungen an Korpus, Griffbrett und Kopfplatte vorgenommen, die zu einem uneinheitlichen Erscheinungsbild der Gitarre führten.

Gitarre von Joh. Anton Stauffer. 1835-40.
Gitarre von Joh. Anton Stauffer. 1835-40.

1) Das Griffbrett war gewöhnlich aus Ebenholz oder Palisander und mit dem Hals verleimt. Es befand sich auf gleicher Höhe mit der Decke. Meist endete es am zwölften Bund. Das Griffbrett konnte aber auch in die Decke eingearbeitet sein oder die Decke in den Hals hineinragen. Die Griffbrettbünde wurden durch drei bis sieben Deckenbünde ergänzt. Dadurch vergrößerte sich der Tonumfang der Gitarre. Die höheren Bünde waren jedoch schwer zu erreichen und wurden in der Praxis kaum genutzt. Die Bundstäbchen bestanden zunächst aus Knochen oder Elfenbein, später aus Silber oder Messing. 

In den 1820er Jahren wurde das Griffbrett verlängert und über den Halsansatz hinaus an Hals und Decke geleimt. Das Standardgriffbrett hatte 17 bis 19 Bünde. Eine besondere Neuerung stellte das 1821 von Johann Georg Stauffer entwickelte Legnani-Modell dar. Das Griffbrett lag über der Decke und ragte über das Schallloch hinaus. Durch diese geniale Konstruktion konnten 22 Bünde auf dem Griffbrett untergebracht werden. Da sich das Griffbrett jedoch zum Ende hin verjüngte, konnten nur die Diskantsaiten auf den höchsten Bünden gegriffen werden. Das Legnani-Modell besaß außerdem einen verstellbaren Hals, der es dem Spieler ermöglichte, die Saitenlage seinen Bedürfnissen anzupassen.

2. Die Biedermeiergitarre war mit sechs Einzelsaiten bespannt. Damit unterschied sie sich grundlegend von der fünfchörigen Barockgitarre. Die Abkehr von der Doppelchörigkeit erfolgte vor dem Hintergrund eines musikalischen Paradigmenwechsels. Das Prinzip der Polyphonie, des gleichberechtigten Nebeneinanders mehrerer Stimmen, war in der Vorklassik durch das Prinzip der Homophonie, der Dominanz der Melodiestimme gegenüber den Begleitstimmen, abgelöst worden. Auf den einzelnen Saiten konnte die Melodieführung wesentlich expressiver gestaltet werden als auf den Doppelchören.

Die Saiten wurden in einem aufwendigen Verfahren aus Lammdärmen hergestellt (vgl. AMZ 5/1803, Sp. 785-791). Sie zeichneten sich durch einen warmen, natürlichen Klang aus, waren aber als organisches Material empfindlich gegenüber Luftfeuchtigkeit und Temperaturschwankungen. Die Basssaiten wurden mit Silberdraht umsponnen, um den Basstönen mehr Kraft und Brillanz zu verleihen.

Für die Mensur, die frei schwingende Länge der Saiten vom Steg bis zum Sattel, gab es keine verbindliche Norm. Sie konnte zwischen 58 und 65 cm variieren. Ihre Länge hing von mehreren Einflussfaktoren ab, unter anderem von der Tradition des Gitarrenbaus, dem Konzept des Gitarrenbauers und der Handgröße des Kunden. Die Standardmensur lag bei etwa 63 cm. Zu den Gitarren mit der kürzesten Mensur gehörte das Legnani-Modell von Johann Georg Stauffer mit einer Mensur von 55,8 cm (Heck 1970, Bd. 1, S. 52).

Gitarre von René Lacôte mit Moustache-Steg. ca. 1835.
Gitarre von René Lacôte mit Moustache-Steg. ca. 1835.

3) Um 1800 ersetzten Gitarrenbauer in Neapel den traditionellen Knüpfsteg durch den Knopfsteg. Die Saiten wurden nicht mehr am Steg verknotet, sondern durch kleine Öffnungen im Steg gesteckt und dann mit Knöpfen oder Stiften festgeklemmt. Steg und Stegstifte waren meist aus Ebenholz. Um 1815 wurden die ersten Stege mit einer Stegeinlage versehen. Die Stegeinlage diente dazu, die Saiten in einem bestimmten Abstand zum Griffbrett zu halten. Die Saitenlage durfte weder zu tief noch zu hoch sein, damit die Saiten nicht schnarrten oder das Spiel erschwerten. Als Material für den Steg wurde Knochen, Elfenbein, Ebenholz oder Messing verwendet.

Die Stege hatten meist verzierte Enden mit floralen Mustern, dekorativen "Schnurrbärten" (moustaches) oder linearen geometrischen Formen. Die Stegstifte waren mit Zierpunkten aus Elfenbein oder Perlmutt versehen. Eine Ausnahme bildeten die Gitarren der Turiner Schule. Sie besaßen einen breiten Steg zur Versteifung der Decke. Die Saiten wurden hier nicht durch Stifte gehalten, sondern traditionell am Steg verknotet.

Spanische Gitarren hatten im Allgemeinen höhere Stege als italienische oder französische Gitarren. Dies mag ein Grund dafür sein, dass die Stützfingertechnik in Spanien weniger verbreitet war als in anderen europäischen Ländern.

Gitarre von Joh. Anton Stauffer. 1835-40.
Gitarre von Joh. Anton Stauffer. 1835-40.

4. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die meisten Gitarrenbauer im Hauptberuf Geigenbauer. Für Geigen und Gitarren wurden die gleichen Klanghölzer verwendet. Die Decke war meist aus Fichte, Boden und Zargen aus Ahorn. Griffbrett, Wirbel und Saitenhalter bestanden aus Ebenholz. Der Gitarrenhals konnte im Gegensatz zum Geigenhals aus verschiedenen Hölzern bestehen. Ahorn, Buche, Esche, Cedro oder Mahagoni waren hier die Materialien der Wahl. Oft wurde der Hals schwarz lackiert. Als Leim wurde im Gitarrenbau Tierhautleim verwendet, als Lack häufig Schellack. 

5. Der Boden war meist flach, konnte aber bei einigen Modellen auch leicht gewölbt sein. Er bestand in der Regel aus zwei symmetrischen Hälften. Gitarren von Pons und Lacôte, die nach 1820 gebaut wurden, hatten oft einen einteiligen Boden. Für den Boden konnten auch Furniere aus Fichte oder brasilianischem Palisander verwendet werden.

6. Die Gitarre dieser Zeit hatte eine Korpustiefe von sechs bis neun Zentimetern. Sie hatte einen deutlich kleineren Korpus als die heutige Konzertgitarre. Dadurch war es möglich, die Gitarre auf dem rechten Oberschenkel abzustützen und aufrecht vor dem Körper zu halten. Eine Standardgröße für Gitarren gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht. Die Gitarrenbauer passten die Korpusgröße den Bedürfnissen ihrer Kunden an. Es gab Meistergitarren, die in der Regel größer waren, Damengitarren, die kleiner waren und einen schmaleren Hals hatten, und Terzgitarren mit kleinem Korpus und kurzem Hals.

Kopfplatte mit Schmetterlingswirbeln von Joseph Pons. 1819.
Kopfplatte mit Schmetterlingswirbeln von Joseph Pons. 1819.

Die Kopfplatte war einem Gitarrenkorpus nachempfunden. Sie hatte die Form einer Acht und sechs hinterständige Wirbel. Wie bei der Violine wurden Reibungswirbel aus Ebenholz verwendet. Beim Stimmen wurde ein Wirbel leicht aus dem Wirbelloch herausgezogen, mit minimalen Bewegungen gedreht und gleichzeitig wieder hineingeschoben. Durch die Reibung wurde der Wirbel festgehalten. Bei falscher Handhabung konnte er jedoch schnell herausrutschen. Joseph Pons und René Lacôte verwendeten deshalb Wirbel mit einem Metallgewinde. Diese "Schmetterlingswirbel" konnten einfach und bequem mit einer Flügelmutter befestigt werden. 

Neben den Wirbeln befand sich meist noch ein kleines Loch am oberen Ende des Kopfes. Dieses diente zur Befestigung eines Tragegurtes. Entsprechend waren viele Gitarren des frühen 19. Jahrhunderts mit einem Endknopf in der Zarge ausgestattet. Der Endknopf war meist aus Ebenholz oder Knochen geschnitzt.

Anfang der 1820er Jahre erfand Johann Georg Stauffer eine verdeckte Mechanik aus Metall, die auf der Rückseite der Kopfplatte befestigt wurde. Das Schneckengetriebe der Mechanik war in der Kopfplatte verborgen. Nur die sechs Stimmflügel ragten seitlich aus der Kopfplatte heraus. Die Kopfplatte war asymmetrisch geformt und entsprach in ihrer Form dem Wirbelkasten einer Geige. Etwa zur gleichen Zeit entwickelten Pons und Lacôte eine durchbrochene Kopfplatte, auf der rechts und links je eine Grundplatte mit drei offenen Mechaniken mit Schneckengetriebe und hinterständigen Flügeln montiert war.

7. Auf der Unterseite der Resonanzdecke wurden Holzleisten aufgeleimt. Sie sollten die Decke stabilisieren und den Klang optimieren. Es gab verschiedene Beleistungssysteme: die Fächerbeleistung (Pages, Martinez, Panormo), die symmetrische Leiterbeleistung (Fabricatore, Stauffer) und die asymmetrische Leiterbeleistung (Pons, Lacote). Die Art der Beleistung hatte einen großen Einfluss auf den Klang und war ein Erkennungsmerkmal für die Zugehörigkeit zu einer der maßgeblichen Gitarrenbauschulen. Die spanischen Gitarren hatten eine langsame Ansprache. Sie waren eher leise, besaßen aber einen warmen Bass mit singenden Höhen. Die Instrumente der Wiener Gitarrenbauschule hatten eine schnelle Ansprache und zeichneten sich durch einen kräftigen, kernigen Klang mit guter Projektion aus. Die französischen Gitarren hatten ebenfalls eine schnelle Ansprache. Der Klang war jedoch eher hell und leicht als kräftig.

Gitarre mit Rankenverzierungen aus Ebenholz und Randeinlagen aus Perlmutt von Joseph Pons. 1819.
Gitarre mit Rankenverzierungen aus Ebenholz und Randeinlagen aus Perlmutt von Joseph Pons. 1819.

Ein weiteres, wenn auch vages Merkmal der klassisch-frühromantischen Gitarre ist ihre funktionale Bauweise. Die sechssaitige Gitarre entstand in der Zeit der Französischen Revolution, in der sich das Bürgertum vom Adel emanzipierte. Sie war also nicht nur ein höfisches Instrument wie die doppelchörige Barockgitarre, sondern auch ein Instrument des Bürgertums. Auf prunkvolle Rosetten und aufwändige Intarsien, die den Klang beeinträchtigten, wurde verzichtet. Die Gitarre sollte in erster Linie gut klingen und kein ästhetisches Schaustück sein.

Das Empire (1799-1815) war eine Zeit des Übergangs. Zunächst wurde die sechssaitige Gitarre zum Modeinstrument des Adels und des wohlhabenden Bürgertums. In dieser Zeit entstanden noch reich verzierte Gitarren, die den Vergleich mit Barockgitarren nicht zu scheuen brauchten. Zu den wohl schönsten Gitarren dieser Epoche gehören zwei Gitarren der Kaiserin Marie-Louise von Österreich (1791-1847). Eine der beiden Gitarren hat eine ungewöhnlich große Mensur von 65 cm und wurde 1810 anlässlich ihrer Hochzeit mit Napoleon I. von Johann Georg Stauffer in Wien gebaut (Hofmann 2017, S. 1). Die andere hat die schlanke Form einer Damengitarre. Sie wurde 1812 von Joseph Pons in Paris angefertigt und 1815 dem kaiserlichen Kammervirtuosen Mauro Giuliani in Wien als Dank überreicht (Pleijsier 1999, S. 21). Beide Gitarren wurden aus exquisiten Materialien und mit großer handwerklicher Kunstfertigkeit hergestellt. Dennoch waren diese Luxusgitarren keine reinen Prunkstücke, sondern klangschöne und gut spielbare Instrumente.

Mit dem Ende des Empire verlor die Gitarre ihren Status als Modeinstrument des Adels und wurde vollends zu einem Instrument der bürgerlichen Gesellschaft. Im Biedermeier bevorzugte man für das Aussehen der Gitarre eine schlichte Eleganz. Man verzichtete auf auffällige Verzierungen. Stattdessen rückte man das Holz und seine Maserung in den Vordergrund. Häufig wurden für Boden und Zargen ausgesucht gemaserte Hölzer verwendet und mit Randeinlagen aus Holz dezente farbliche Akzente gesetzt.