Der Vortrag

Unter "Vortrag" verstand man zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Aufführung einer in Noten geschriebenen Komposition durch einen Musiker. Einige Aspekte des Vortrags - Takt, Tempo, Artikulation, Dynamik und Klangfarbe - waren durch Zeichen und Angaben im Notentext vorgegeben. Andere Aspekte wie Agogik, Akzentuierung, Phrasierung und Interpunktion waren nicht oder nur teilweise notiert. Stellen im Notentext, die aus sich selbst heraus verständlich waren, wurden nicht mit Vortragsanweisungen versehen. Nicht oder kaum von Vortragsanweisungen betroffen waren improvisatorische Elemente. Der ausführende Musiker durfte sich interpretatorische Freiheiten herausnehmen, wenn er das volle Wirkungspotenzial einer Komposition ausschöpfen wollte. Die Unvollkommenheiten in der Notation, die man heute wahrzunehmen meint, waren weniger ein Defizit als ein ästhetisches Potenzial, das es auszuschöpfen galt.

In der Klassik hatte der Musiker einen relativ großen Spielraum für eigene Ergänzungen. Er durfte an Stellen des Notentextes, die keine Vortragsangaben enthielten, eigene Entscheidungen treffen und durch "willkürliche Manieren", "Zusätze und Veränderungen" ein Musikstück aufwerten und verschönern. Die Zusätze und Veränderungen konnte er an etwas langweiligen Stellen in den Wiederholungen anbringen, wie Daniel Gottlob Türk erläuterte: "Man merke aber, daß überhaupt billig nur solche Stellen (und zwar erst bey der Wiederholung eines Tonstückes) verändert werden sollten, welche außerdem zu wenig unterhaltend, folglich langweilig sc. seyn würden" (Türk 1789, S. 323).

Der Interpret konnte die vorgeschriebene Melodie variieren, synkopieren oder durch dynamische, agogische oder artikulatorische Veränderungen oder durch das Hinzufügen von Verzierungen abwechslungsreicher gestalten: "Die Veränderungen sind auf verschiedene Art möglich. Man setzt nämlich zu den vorgeschriebenen Noten noch mehrere hinzu (dies geschieht am Häufigsten, aber nicht immer zweckmäßig,) oder man verändert die vorgeschriebene Figur in eine andere, die aus eben so vielen Noten besteht. Ferner wird zuweilen die Anzahl der Noten vermindert; wiewohl dies letztere in Tonstücken, welche für das Klavier bestimmt sind, selten zu geschehen pflegt. Auch verändert man durch das sogenannte Verrücken der Noten, wenn nämlich einige verlängert, andere dagegen verkürzt werden. Außerdem giebt es noch mancherley andere Mittel zum Verändern z. B. abwechselnde Stärke und Schwäche, Schleifen, Abstoßen, Tragen der Töne u. dgl. m." (ebd. S. 323f.). Die Freiheiten, die er sich herausnahm, durften sich jedoch nicht zu weit von den Vorgaben des Notentextes entfernen, sondern mussten "dem Charakter des Tonstückes gemäß seyn". Türk mahnte daher: "Der Endzweck dieser Veränderungen ist im geringsten nicht, die Fertigkeit des Spielers zu zeigen, sondern dem Affekte mehr Stärke und Wahrheit zu geben" (ebd. S. 325). 

In der Romantik versuchten die Komponisten, die Interpretation ihrer Werke stärker zu kontrollieren, indem sie durch eine genaue und differenzierte Notation den Spielraum der Interpreten einschränkten. Andererseits erwarteten sie von den ausführenden Musikern, dass sie ihre Kompositionen nicht nur "richtig", sondern auch "schön" interpretierten. Louis Spohr fasste die Erwartungen an den musikalischen Vortrag pointiert zusammen: "Vortrag heisst die Art und Weise, wie der Sänger oder Spieler das, was der Komponist ersann und niederschrieb, zu hören giebt. Beschränkt sich dies auf ein treues Wiedergeben dessen, was durch Noten, Zeichen und Kunstwörter vorgeschrieben ist, so nennt man es richtigen Vortrag; thut der Ausübende aber von dem Seinigen hin zu und vermag er das Vorgetragene geistig zu beleben, so dass vom Hörer die Intenzionen des Komponisten erkannt und mitempfunden werden können, so heisst dies schöner Vortrag, der dann Correktheit, Gefühl und Eleganz in sich vereinigt" (Spohr 1832, S. 195). 

Ein "richtiger" Vortrag wurde dadurch zum "schönen", dass der Musiker durch den Einsatz expressiver Ausdrucksmittel - Dynamik, Klangfarbe und Artikulation, Glissando, Vibrato und Rubato - dem vorgetragenen Stück "Gefühl und Eleganz" verlieh. Dies durfte jedoch nicht äußerlich geschehen. Der ausführende Musiker musste das Gefühl, das der Komponist in sein Werk gelegt hatte, innerlich nachempfinden und in sein Spiel einfließen lassen oder, wie Spohr es ausdrückte, "von dem Seinigen hinzutun" und das Vorgetragene "geistig beleben". "Alle diese Ausdrucksmittel werden aber erst dann zum schönen Vortrage führen, wenn der gute Geschmack über deren Anwendung wacht und die Seele des Spielers den Bogen führt und die Finger belebt" (ebd. S. 196).

  1. Das Notenmaterial
  2. Das Musikverständnis
  3. Das Tempo
  4. Die Akzentuierung
  5. Die Interpunktion
  6. Die Artikulation
  7. Dynamik und Klangfarbe