Das Notenmaterial

Noten sind die materielle Grundlage der musikalischen Interpretation. Ein Gitarrist, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebte, machte sich keine Gedanken darüber, welche Noten er seinem Spiel zugrunde legen sollte. Er benutzte ganz selbstverständlich die Noten, die im Musikalienhandel erhältlich waren. Der Interpret von heute hingegen hat die Qual der Wahl. Er hat die Wahl zwischen faksimilierten Handschriften, Reproduktionen alter Drucke, Urtextausgaben und modernen Notenausgaben.

1 Manuskripte, Faksimile- und Urtextausgaben

Die Frage, welches Notenmaterial der heutige Interpret klassisch-frühromantischer Gitarrenmusik verwenden sollte, ist relativ leicht zu beantworten: die Originalhandschriften der Komponisten. Nur hier kann man sich sicher sein, dass das Notenmaterial dem unverfälschten Willen des jeweiligen Komponisten entspricht. Allerdings sind die Manuskripte bedeutender Gitarrenkomponisten nur selten erhalten geblieben. Eine Ausnahme stellt die Zeit vor 1817 in Spanien dar: "Bis zum Jahre 1817, als Bartolomé Wirmbs‘ musikalisches Stich- und Druckunternehmen anfing, regelmäßig gedruckte Musik zu produzieren, war die gesamte Musik für Gitarre, die in Madrid kommerziell veräußert wurde, Musik aus Manuskripten" (Briso de Montiano 2018, S. 25).

In der Regel muss man sich mit der zweitbesten Lösung begnügen und auf die ältesten Drucke der Werke zurückgreifen, die in Musikbibliotheken oder Faksimile-Ausgaben verfügbar sind. Viele Notendrucke sind in digitalisierter Form verfügbar. Sie finden sich unter anderem in der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, in der Boijes Samling in der Staatlichen Musikbibliothek in Stockholm und in der Rischel & Birket-Smith Samling in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen. Die digitalen Archive der Staatsbibliotheken enthalten jedoch nicht immer die ältesten Drucke, so dass professionell edierte Faksimile-Ausgaben nach wie vor eine sinnvolle Alternative darstellen.

Bei alten Drucken kann man jedoch nicht sicher sein, ob der Komponist sie selbst gesehen, korrigiert und autorisiert hat. Oft enthalten sie Druckfehler. Auch der Notensatz ist nicht immer von hoher Qualität. Wer Faksimile-Ausgaben benutzen will, kommt nicht umhin, den Notentext kritisch auf Fehler zu untersuchen. Die Herausgeber von Faksimile-Ausgaben weisen gelegentlich auf Druckfehler hin. Dies entbindet den Interpreten nicht von der Aufgabe, den Notentext auf weitere Druckfehler zu untersuchen. Das Erkennen von Druckfehlern wird durch häufige Wiederholungen im Notentext erleichtert. So kann z. B. ein musikalischer Abschnitt einen Fehler enthalten, während die Wiederholung dieses Abschnitts korrekt gedruckt ist. 

Wem ein gründliches Studium des Notentextes zu anstrengend ist, kann alternativ auf sogenannte Urtextausgaben zurückgreifen. Urtextausgaben sind Rekonstruktionen dessen, was der Komponist schreiben wollte, und werden als moderner, fehlerfreier Notentext herausgegeben. Für die Aufführungspraxis stellt dies eine erhebliche Erleichterung dar. Allerdings muss man sich darüber im Klaren sein, dass die editorischen Entscheidungen, die der Veröffentlichung eines "Urtextes" zugrunde liegen, nicht unbedingt richtig sind. Auch die Intentionen des Komponisten können durch die Umgestaltung des Notentextes verfälscht worden sein. Letztlich ist auch der Interpret gefordert, Urtextausgaben kritisch zu hinterfragen und die Entscheidungen der Herausgeber zu überprüfen.

Gleiches gilt in verstärktem Maße für moderne Notenausgaben. Sie eignen sich nur selten als Grundlage für eine historisch informierte Aufführungspraxis klassischer und frühromantischer Gitarrenmusik.

2 Formen der Notation für Gitarrenmusik

Betrachtet man die ältesten Drucke der Werke, so stellt man fest, dass die Notation von Gitarrenmusik damals anders aussah als heute. Der Musikwissenschaftler Thomas F. Heck unterscheidet drei Formen oder Stufen der Notation: 1. eine primitive Form, 2. eine Zwischenform und 3. eine fortgeschrittene Form der Notation (Heck 1995, S. 140-149). 

B. D. C.: Méthode de Guittarre Par Musique et Tablature. Paris 1773. S. 16.
B. D. C.: Méthode de Guittarre Par Musique et Tablature. Paris 1773. S. 16.

1) Die primitive Form der Notation findet sich u. a. bei Antoine Bailleux, Fernando Ferandière, Charles Doisy, Bartolomeo Bortolazzi und Mathieú Bevilacqua. Sie löste in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Lauten- und Gitarrentabulatur ab. Anstelle von Griffzeichen wurden Noten verwendet, die auf einem Liniensystem dicht nebeneinander standen. Doch weder Stimmführung noch Spielweise waren erkennbar. Bassnoten waren weder durch einen nach unten weisenden Hals gekennzeichnet, noch wurde ihr tatsächlicher Notenwert angegeben. Diese einstimmige Violin-Notation wurde noch von Carulli und Molino für Arpeggien verwendet, weil sie leichter zu lesen war. Carulli weist in seiner "Méthode Complette pour Guitare ou Lyre" (1810) darauf hin, dass die Notation der Arpeggien von der tatsächlichen Spielweise abweicht: "Um ein Musikstück auf der Gitarre gut wiederzugeben, muss man bei den Bassnoten, die nicht offen sind, den Finger auf der Saite lassen, bis eine andere Note das Anheben des Fingers erzwingt: Diese Aufmerksamkeit ist notwendig, um den Ton dieser Note aufrechtzuerhalten und denjenigen zu vermeiden, den die Schwingung der leeren Saite in dem Moment hervorrufen würde, in dem der Finger aufhört, sie niederzudrücken" (Carulli 1819, S. 10 übers.; vgl. Molino 1813, S. 13f.; ders. 1817, S. 23f.).

2) Eine Zwischenform der Notation, bei der Oberstimme und Unterstimme durch unterschiedliche Halsrichtungen (Oberstimme nach oben, Unterstimme nach unten) getrennt sind, entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Welcher Gitarrist sie als erster eingeführt hat, ist in der Forschung umstritten. Als Erfinder der neuen Notationsweise werden a) Federico Moretti, b) Jean Baptiste Phillis und c) Simon Molitor genannt.

F. Moretti: Trois Rondeaux pour la Guitare ou Lyre. Œuvre IV. Paris 1800.
F. Moretti: Trois Rondeaux pour la Guitare ou Lyre. Œuvre IV. Paris 1800.

a) Fernando Sor und Dionisio Aguado rühmten Federico Moretti (1769-1839), einen italienischen Offizier, der in der spanischen Armee diente, als den entscheidenden Impulsgeber für die neue Notationsweise. Moretti war die "Fackel, welche die Irrgänge der Guitarristen zu erleuchten bestimmt sei", gewesen (Sor 1831, S. 3, Anm. 1). "Don Federico Moretti war der erste, der anfing, Gitarrenmusik so zu schreiben, dass man zwei Teile unterscheiden konnte, einen für den Gesang und einen für die Begleitung" (Aguado 1825, S. 1 übers.). In Morettis Gitarrenschule findet sich jedoch kein Hinweis auf eine neue Notation, und eines seiner ersten veröffentlichten Werke, "Trois Rondeaux pour la Guitare ou Lyre" (1800), weist kaum Spuren einer neuen Notation auf. Die Bassnoten sind hier nach unten gehalst (siehe Abb.).

Die Notation "dans l'ancien et nouveau genre". In: P. Phillis: Nouvelle Méthode. Paris 1799. S. 24.
Die Notation "dans l'ancien et nouveau genre". In: P. Phillis: Nouvelle Méthode. Paris 1799. S. 24.

b) Charles Doisy äußerte sich in seinen "Principes Généraux de la Guitare" (1801) abfällig über "einige Lehrer", die die Gitarrenmusik in zwei Systemen notierten, nach der Art der Harfe und des Klaviers: "La Manière de noter la Musique pour la Guitare, par quelques Professeurs, à l'instar, disent ils, de celle de la Harpe et du Piano, est mauvaise" (Doisy 1801, S. 56). Matanya Ophee vermutet, dass Doisy mit dieser Formulierung auf die verschollene "Méthode Courte et Facile" (1797) des französischen Gitarristen Jean Baptiste Phillis (ca. 1751-1823) anspielte, die 1802 in überarbeiteter Form als "Nouvelle méthode" erschien (Ophee 1983, S. 250f). Tatsächlich bezog sich Doisy auf die bereits 1799 erschienene "Nouvelle Méthode pour la Lyre ou Guitarre", die im Untertitel eine "Nouvelle Manière de Noter à l'instar de la Harpe et du Piano" vorstellte. Die "Méthode Courte et Facile" erschien erst 1803 (Elliker 2002). Das einzige erhaltene Exemplar der Schule wird in der Musikbibliothek der Universität Michigan aufbewahrt. Es enthält auch die "Nouvelle manière de noter" (Phillis 1803, S. 7). Phillis' Idee, Gitarrenmusik in zwei Systemen zu notieren, setzte sich jedoch nicht durch.

S. Molitor: Grande Sonate pour Guitarre et Violon concertans. Oeuvre III. Wien 1804.
S. Molitor: Grande Sonate pour Guitarre et Violon concertans. Oeuvre III. Wien 1804.

c) Peter Schmitz hat in kritischer Auseinandersetzung mit Orphees These darauf hingewiesen, dass der deutsche Gitarrist Simon Molitor (1766-1848) als erster die Einführung der neuen Notationsweise für sich in Anspruch genommen hat (Schmitz 1994, S. 18f.).  Anhand seiner "Grande Sonate pour la Guitare et Violon Concertans, Opus 3" (1804) erläuterte Molitor die Vorzüge der von ihm entwickelten Notation: "Zur Rechtfertigung der von mir angenommenen Schreibart … glaube ich behaupten zu dürfen, dass nur diese Schreibart die Accorde und das Maas der Klänge für den Spieler sowohl als für den blossen Mu­sikkenner richtig darstellt; da hingegen die gewöhnliche Schreibart nicht viel mehr als den blossen mechanischen Fingersatz ausdrückt, und ein musikalisches Auge … beleidigen, von dem Instrumente aber, dem sie eigen ist, eine eben nicht vortheilhafte Meinung erwecken muss" (Molitor 1806, S. 14). Tatsächlich unterscheidet sich Molitors Notationsweise deutlich von der damals üblichen.

M. Giuliani: Six Variations. Oeuvre 2. Wien 1807.
M. Giuliani: Six Variations. Oeuvre 2. Wien 1807.

In seinem "Versuch einer vollständigen methodischen Anleitung zum Guitare-Spielen" (1812) berichtet Molitor nicht ohne Stolz, dass Mauro Giuliani (1781-1829) die von ihm erfundene Notation übernommen habe. Giuliani, der gegen Ende des Jahres 1806 nach Wien gekommen war, verwendete die neue Notation tatsächlich für seine Werke. Es ist durchaus möglich, dass er sie von Molitor übernommen hat. Allerdings stellte er die Bassnoten nicht mit ihrem tatsächlichen Notenwert dar, sondern bevorzugte, wie Thomas F. Heck herausgestellt hat, eine Notation a note nere, die halbe Noten fast immer als Viertelnoten darstellte, wobei die fehlende Viertelnote durch ein Pausenzeichen ersetzt wurde. Die Saiten sollten an diesen Stellen nicht gedämpft werden, sondern ausklingen, was bei den damaligen Gitarren recht schnell geschah. Pausenzeichen konnten bei Giuliani also zwei Funktionen haben: Sie konnten entweder echte Pausen anzeigen oder aber Stellen, an denen Noten ausklingen sollten (Heck 1995, S. 145f.). Notierte Giuliani im Bass abweichend eine halbe oder ganze Note, so musste die Saite stärker angeschlagen werden und der Basston so lange erklingen, "als der Werth der Note es erfordert" (Giuliani 1812, S. 29).

Als Erfinder der neuen Notation kommt daher am ehesten Simon Molitor in Frage. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass ein einzelner Gitarrist die neue Notation entwickelt und in ganz Europa verbreitet hat. Vielmehr wird man in den europäischen Musikmetropolen - Madrid, Paris und Wien - gleichzeitig die Unzulänglichkeit der alten Notation erkannt und an ihrer Verbesserung gearbeitet haben.

N. Coste: La Chasse des Sylphes. Op. 29. Paris 1857.
N. Coste: La Chasse des Sylphes. Op. 29. Paris 1857.

3) Eine fortgeschrittene Form der Notation, die nicht nur die einzelnen Stimmen voneinander trennte, sondern auch die tatsächliche Dauer der Noten genau angab, findet sich schließlich bei Fernando Sor (1778-1839) und Napoléon Coste (1805-1883). Coste stellte die Notenwerte auch über die Taktgrenzen hinaus durch Haltebögen dar. Außerdem fügte er zahlreiche Vortragsbezeichnungen für Dynamik, Agogik und Artikulation in seine Werke ein. Auf diese Weise schuf er Charakterstücke, die ganz dem romantischen Zeitgeist entsprachen.

Die präzise und differenzierte Notation ermöglichte dem Interpreten ein sicheres Verständnis und gab ihm das Werkzeug für ein ausdrucksstarkes und nuanciertes Spiel in die Hand. Sie schränkte aber auch den Interpretationsspielraum stark ein.

3 Das Notierte und das Nicht-Notierbare

Die Auswahl des geeigneten Notenmaterials ist zweifellos wichtig für eine werkgetreue Wiedergabe klassischer und frühromantischer Gitarrenmusik. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass das eigentlich Musikalische im Notenmaterial nicht enthalten ist. Bereits 1802 mahnte Heinrich Christoph Koch (1749-1816), die musikalische Darstellung nicht in den Dienst des Buchstabens, sondern des Geistes zu stellen: "So vollständig und bestimmt unsere Tonschrift in Ansehung der Darstellung der Töne in Rücksicht auf Höhe und Zeitdauer ist, so kann dennoch genau genommen weiter nichts, als gleichsam der tode Buchstabe eines Tonstückes dadurch vorgestellet werden. Dasjenige, wodurch der Geist desselben beym Vortrage fühlbar gemacht werden muß, wird sich niemals durch Zeichen völlig darstellen lassen" (Koch 1801, Sp. 52f.; vgl. Müller 1815, S. 287).

Wesentliche Elemente des Vortrags wurden damals nicht notiert. Man wusste, dass die Notenschrift eine Art Notbehelf war, den nur ein ausdrucksvoller Vortrag vergessen machen konnte. So schrieb Mozart 1778 an seinen Vater, dass es beim Blattspiel darauf ankomme, "alle noten, vorschläg Etc: mit der gehörigen expression und gusto, wie es steht auszudrücken, so, das man glaubt, derjenige hätte es selbst Componirt, der es spiellt" (an Leopold Mozart, 17. 01. 1778). Der heutige Interpret sollte sich daher frei fühlen, ein Stück ausdrucksvoll zu spielen und Verzierungen in einem historisch authentischen Rahmen geschmackvoll anzubringen. Sein Interesse sollte nicht darin bestehen, einen Notentext buchstabengetreu wiederzugeben, sondern dem Publikum das zu vermitteln, was hinter den Noten steht: die Idee eines Werkes, den Geist der Musik.