Die Akzentuierung

1 Die musikalische Akzentsetzung im späten 18. Jahrhundert

Im 18. Jahrhundert wurde Musik in Analogie zur Sprache als Klangrede verstanden. Die Töne wurden als Silben aufgefasst, aus denen sich musikalische Worte und Sätze bildeten. Dementsprechend konnten sie sich in Länge und Betonung voneinander unterscheiden. Johann Philipp Kirnberger (1721-1783) beschrieb den Prozess der Verwandlung von Tönen in Wortsilben folgendermaßen: "Diese Verwandlung eines blossen Stroms von Tönen in einen der Rede ähnlichen Gesang geschieht einen Theiles durch Accente, die auf einige Töne gelegt werden, theils durch die Verschiedenheit der Länge und Kürze der Töne. (...) In der genauen Einförmigkeit der Accente, die auf einige Töne gelegt werden, und der völlig regelmäßigen Vertheilung der langen und kurzen Sylben, bestehet eigentlich der Tackt. Wenn nemlich eben dieselben schwereren oder leichteren Accente in gleichen Zeiten wiederkommen, so erhält der Gesang dadurch ein Metrum oder einen Tackt" (Kirnberger 1776, S. 113).

Johann Georg Sulzer. Gravur von J. F. Bause nach einem Gemälde von A. Graff. 1773.
Johann Georg Sulzer. Gravur von J. F. Bause nach einem Gemälde von A. Graff. 1773.

Die Betonung konnte regelmäßig sein, um dem gesprochenen Worten einen einheitlichen Rhythmus zu geben, oder unregelmäßig, um einzelne Silben hervorzuheben. Die erste Art der Betonung nannte Johann Georg Sulzer (1720-1779) den "grammatischen Accent", die zweite den "oratorischen" oder "pathetischen Accent":

1. "Die grammatischen Accente in der Musik sind die langen und kräftigen Töne, welche die Haupttöne jedes Accords ausmachen und die durch die Länge und durch den Nachdruk, durch die mehrere Fühlbarkeit, vor den andern, die durchgehende, den Accord nicht angehende Töne sind, müssen unterschieden werden. Diese Töne fallen auf die gute Zeit des Takts" (Sulzer 1771, S. 10).

2. "Die oratorischen und pathetischen Accente des Gesanges werden beobachtet, wenn auf die Wörter, welche die Hauptbegriffe andeuten, Figuren angebracht werden, die mit dem Ausdruk derselben überein kommen, weniger bedeutende Begriffe aber mit solchen Tönen belegt werden, die blos zur Verbindung des Gesanges dienen; wenn die Hauptveränderungen der Harmonie auf dieselben verlegt werden; wenn die kräftigsten Ausziehrungen des Gesanges, die nachdrüklichsten Verstärkungen oder Dämpfungen der Stimmen, an die Stellen verlegt werden, wo der Ausdruk es erfodert" (ebd. S. 11).

Heute werden diese beiden Formen der Akzentuierung als "metrische" und "expressive Akzentuierung" bezeichnet.

1.1 Die metrische Akzentuierung

Im 18. Jahrhundert dominierte die metrische Betonung gegenüber der expressiven, da sich die musikalische Rhetorik stark an der antiken Verslehre orientierte. So wie die Silben eines Gedichts einem durchgehenden Metrum gehorchen, so wurde die Betonung der Noten durch die Taktart eines Musikstücks bestimmt. Leopold Mozart stellte daher den Takt über die Melodie: "Der Tact macht die Melodie; folglich ist er die Seele der Musik. Er belebt nicht nur allein dieselbe; sondern er erhält auch alle Glieder derselben in ihrer Ordnung" (Mozart 1756, S. 27). Das bedeutete, dass die Artikulation der Melodie der Betonungsordnung des Taktes folgen musste.

Um eine melodische Linie klar vorzutragen, mussten nach Sulzer "die Accente des Gesanges fühlbar gemacht werden. Hierunter werden erstlich die Töne gerechnet, die auf die gute Zeit des Takts fallen. Von diesen erhält die erste Note des Takts den vorzüglichsten Druk, damit das Gefühl des Taktes beständig unterhalten werde, ohnedem kein Mensch die Melodie verstehen würde. Nächst der ersten Taktnote werden die übrigen guten Zeiten des Takts, aber weniger stark, marquiret. Hiebey muß aber der Unterschied wol beobachtet werden, den die Einschnitte unter den Takten machen. Die erste Note eines Takts, der nur ein Theil einer Phrase ist, kann nicht so stark marquiret werden, als wenn die Phrase mit ihr anfängt, oder wenn sie der Hauptton einer Phrase ist. Diejenigen, die dieses nicht beobachten, sondern in allen Stüken durchgängig die erste Taktnote gleich stark marquiren; verderben das ganze Stük; denn dadurch, daß sie von dieser Seite zu deutlich sind, schaden sie der Deutlichkeit des Ganzen, indem sie dadurch außer Stand gesezt werden, die Einschnitte gehörig zu marquiren, welches doch von der größten Nothwendigkeit ist" (Sulzer 1774, S. 1249).

J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 124.
J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 124.

Jeder Takt hatte eine metrische Struktur. Die Betonung einer Note hing von ihrer Position innerhalb des Taktes ab. Im 4/4-Takt zum Beispiel folgte auf die erste betonte Note eine zweite leicht betonte Note, eine dritte weniger betonte Note und eine vierte unbetonte Note. Die akzentuierten Noten nannte man "edle" oder "gute" Noten, die unakzentuierten "schlechte" Noten (Quantz 1752, S. 105; vgl. Mozart 1756, S. 257; Türk 1789, S. 335). Bei Kirnberger heißt es: "In den Tacktarten von vier Zeiten ist die erste und dritte Zeit lang, die zweyte und vierte Zeit aber kurz. Erstere werden auch die guten, und letztere die schlechten Zeiten genennet. Von den langen Zeiten ist die erstere wiederum von größeren Gewicht, als die dritte" (Kirnberger 1776, S. 124; vgl. Sulzer 1774, S. 1136).

J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 131.
J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 131.

Die ungeraden Taktarten hatten eine andere metrische Struktur als die geraden Taktarten: "Diese Tripeltaktarten kommen alle darin mit einander überein, daß man bey jeder drey Zeiten auf den Tackt fühlet, davon die erste allezeit lang, die dritte kurz ist. Die zweyte kann, nach Beschaffenheit des Stücks lang, oder kurz seyn. Nemlich in schweren Taktarten und ernsthaften Stücken wird sie gewöhnlich lang, wie in den Chaconnen und in vielen Sarabanden: in leichten Taktarten aber wird diese zweyte Zeit leicht. Diese doppelte Behandlung der zweyten Zeit im Tripeltakt wird durch folgende Beispiele erläutert. Im ersten Beyspiel fällt eine zufällige Dissonanz, die nur auf schwere Taktzeiten kommen kann, auf das zweyte Viertel: im zweyten fällt der Schluß auf dasselbe, folglich ist es hier ebenfalls lang: im dritten Beyspiel aber ist es leicht" (ebd. S. 131; vgl. Sulzer 1774, S. 1137).

Die Betonungsordnung der jeweiligen Taktart galt nicht nur auf der Ebene des Taktes, sondern auch auf über- und untergeordneten Ebenen: 1. auf der Ebene eines einzelnen Tones, der in kleinere Töne zerlegt wurde ("Diminution"), 2. auf der Ebene eines Taktes ("Akzentstufentakt") und 3. auf der Ebene einer Taktgruppe, die in der Regel aus acht Takten bestand ("Achttaktperiode").

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts nahm die Dominanz der metrischen Akzentuierung gegenüber der expressiven ab. So betonte Christoph Heinrich Koch (1749-1816) in seinem "Musikalischen Lexikon" (1802), dass metrische Akzente nur mit geringem Nachdruck gesetzt werden sollten: "Unter dem grammatischen Accente verstehet man den fast unmerklichen Nachdruck, welchen im Vortrage einer Melodie alle auf die gute Zeit des Taktes fallenden Noten erhalten müssen" (Koch 1802, Sp. 50). Insbesondere bei schnellen Passagen sollte die metrische Betonung ganz in den Hintergrund treten: "Dieser grammatische Accent darf bey dem Vortrage der Passagen von gleichartigen Noten in munterer Bewegung, durchaus nicht so hervorstechend seyn, wie der oratorische oder der pathetische Accent (...); sondern er muß so fein modificirt seyn, daß er kaum merklich wird" (ebd. Sp. 51).

Das klangliche Ergebnis einer solchen, an der antiken Verslehre orientierten Artikulation war ein Orchesterklang mit leichten, hüpfenden Bogenstrichen, der in der Wiener Musiktradition besonders gepflegt wurde. So stellte der Berliner Verleger Friedrich Nicolai (1733-1811) fest, dass "tokkirte Noten ... die Wienerischen Orchester mit einer Gleichheit und Präcision" spielen wie kein anderes Orchester (Nicolai 1784, S. 542). Typisch für den Wiener Orchesterklang sei der "leichte Bogenstrich": Ein Andante "gehet ... in Wien einen leichter Gang" als in Berlin. "Hüpfend würde zuviel gesagt seyn (...). Das französische lestement kommt vielleicht dem Sinne am nächsten" (ebd. S. 543). Auch der Königsberger Hofkapellmeister Johann Friedrich Reichardt (1752-1814) wies seine Orchesterviolinisten an, metrische Akzente mit leichtem Bogenstrich zu setzen: "Auch wäre es höchst fehlerhaft, wenn man das Marquiren der Noten - wovon Herr Quanz so viel sagt - jederzeit mit einem besonderen Druck des Bogens bemerken wollte. Es ist dieses weiter nichts, als das kleine Gewicht, was ein jeder der mit aufrichtigem Gefühl für den Takt spielt, schon von selbsten, ohne daran zu denken, der längeren Note giebt" (Reichardt 1776, S. 28).

1.1.1 Punktierte Noten als Spezialfall der metrischen Akzentuierung

Johann Joachim Quantz (1697-1773) stellte in seiner Flötenschule die Regel auf, dass kurze punktierte Noten überpunktiert werden müssen: "Bey den Achttheilen, Sechzehntheilen, und Zwey und dreyßigtheilen, mit Puncten, s. (c) (d) (e), geht man, wegen der Lebhaftigkeit, so diese Noten ausdrücken müssen, von der allgemeinen Regel ab. Es ist hierbey insonderheit zu merken: daß die Note nach dem Puncte, bey (c) und (d) eben so kurz gespielet werden muß, als die bey (e); es sey im langsamen oder geschwinden Zeitmaaße. Hieraus folget, daß diese Noten mit Puncten bey (c) fast die Zeit von einem ganzen Viertheile; und die bey (d) die Zeit von einem Achttheile bekommen: weil man die Zeit der kurzen Note nach dem Puncte eigentlich nicht recht genau bestimmen kann" (Quantz 1752, S. 58).

G. S. Löhlein: Clavier-Schule. 1765. S. 67.
G. S. Löhlein: Clavier-Schule. 1765. S. 67.

Diese Regel wurde später eingeschränkt und die Fälle, in denen Noten überpunktiert werden sollten, präzisiert. Georg Simon Löhlein (1725-1781) beispielsweise, der in seiner "Clavier-Schule" (1765) noch forderte, punktierte Noten wie doppelt punktierte zu spielen (Löhlein 1765, S. 67), ließ diese Regel in seiner "Anweisung zum Violinspielen" (1781) nur noch für langsam vorgetragene Melodien gelten: "Und wenn in einer traurigen, auch allenfalls mäßigen und pathetischen Melodie, viele Figuren mit Punkten vorkommen, so will die Regel des Vortrags, daß man den Punkt noch um die Hälfte an seinem Werthe verlängere, und die darauf folgende Note um so viel kürzer vortrage" (Löhlein 1781, S. 30). 

D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 361.
D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 361.

Auch Daniel Gottlob Türk (1750-1813) unterschied in der Frage der Überpunktierung zwischen langsamen und schnellen Tempi: "Man pflegt nämlich bey punktirten Noten größtenteils länger zu verweilen, (und also die folgenden kurzen Noten dafür geschwinder zu spielen,) als es die Schreibart anzeigt. Z. B. Die bey b) bemerkte Ausführung der punktirten Noten wählt man gewöhnlich, wenn der Charakter des Tonstückes ernsthaft, feyerlich, erhaben sc. ist; (...). Man trägt in diesem Falle die punktirten Noten schwer, folglich ausgehalten, vor. Bey dem Ausdrucke munterer, freudiger sc. Empfindungen muß der Vortrag etwas leichter seyn, ungefähr wie bey c). Der Ausführung d) bedient man sich vorzüglich bey heftig, trotzig sc. vorzutragenden, oder staccato überschriebenen Tonstücken" (Türk 1789, S. 361f.). 

D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 362.
D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 362.

"Bey gefälligen singbaren sc. Gedanken, wie unten bey e), verlängert man die punktirten Noten zwar ebenfalls ein wenig - wenn auch nicht eben so merklich -; doch werden sie sanfter (weniger accentuirt) vorgetragen. Besonders spielt man in solchen Fällen die kurzen Noten nach dem Punkte schwach und geschleift. Ist eine zweyte Stimme, etwa wie bey f), zu den punktirten Noten gesetzt, so bleibt man bey der vorgeschriebenen Eintheilung" (ebd. S. 362; vgl. Schubert 1804, S. 132).

D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 363.
D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 363.

"Die Figuren, wo die erste Note kurz und die zweyte punktirt ist, werden ohne Ausnahme geschleift und größtentheils schmeichelnd vorgetragen. Den ersten (kurzen) Ton accentuirt man zwar, doch darf der Nachdruck nur sehr gelinde seyn" (ebd. S. 363).

1.2 Die expressive Akzentuierung

Wie in der Dichtkunst die Gleichförmigkeit des Versmaßes durchbrochen werden konnte, um eine Aussageabsicht zu verstärken, so war es auch in der Musik möglich, Akzente zu setzen, die die Gleichförmigkeit des Metrums durchbrachen. Koch schrieb in seinem "Musikalische[n] Lexikon" (1802): "So wie sich in der Sprache, besonders wenn der Redende mit Empfindung spricht, gewisse Sylben der Wörter durch einen besondern Nachdruck auszeichnen, wodurch hauptsächlich der Inhalt der Rede für den Zuhörer empfänglich wird, eben so müssen bey dem Vortrage einer Melodie, die eine bestimmte Empfindung enthält, gewisse Töne mit einer hervorstechenden Vortragsart ausgeführet werden, wenn die in derselben enthaltene Empfindung faßlich ausgedrückt werden soll" (Koch 1802, Sp. 49). "Unter den oratorischen und pathetischen Accenten, von welchen die letzten verstärkte Grade der ersten sind, verstehet man nun eigentlich diejenigen, (...) durch welche die Melodie den ihr eigenthümlichen Ausdruck erhält. (...) Sie unterscheiden sich von den grammatischen Accenten nicht nur durch den oben beschriebenen mehr hervorstechenden Vortrag, sondern auch dadurch, daß sie auf keinen bestimmten Theil des Taktes eingeschränkt, sondern blos in dem Ideale des Tonsetzers, welches er durch Noten dargestellt hat, enthalten sind, in welchem sie der Geschmack des Ausführers entdecken muß" (ebd. Sp. 51f.).

J. G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste Bd. 2. 1774. S. 1249.
J. G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste Bd. 2. 1774. S. 1249.

Sulzer zählte in seiner "Allgemeine[n] Theorie der schönen Künste" (1774) die Stellen auf, an denen Noten betont werden mussten, auch wenn sie auf einen unbetonten Taktteil fielen: lange Noten, Spitzentöne der Melodie, Dissonanzen und synkopierte Noten. "Zweytens werden unter die Accente solche Töne gerechnet, die in jeder Phrase einen besondern Nachdruk verlangen. (...) Sie sind daran kennbar, daß sie insgemein länger oder höher als die vorhergehenden und kurz darauf folgenden Töne sind; oder daß sie durch ein der Tonart, worin man ist, fremdes # oder b erhöhet oder erniedriget sind; oder daß sie frey anschlagende Dissonanzen sind; oder daß sie eine an ihnen gebundene Dissonanz prepariren: sie fallen überdem meistens auf die gute Zeit des Taktes, außer wenn ein neuer Einschnitt mit ihnen anfängt, oder wenn der Tonsezer, um sie desto nachdrüklicher zu machen, eine Verrükung vornihmt, und sie um eine Zeit zu früh eintreten läßt; in solchen Fällen kommen sie auch auf der schlechten Zeit des Takts vor, und sind in dem lezten Fall wegen ihrer zugesezten Länge am kennbarsten, wie in dem fünften und sechsten Takt des folgenden Beyspiehls " (Sulzer 1774, S. 1249).

Auch Gottfried Wilhelm Fink (1783-1846) ging in seinem Aufsatz „Ueber Takt, Taktarten und ihr Charakteristisches“ auf Möglichkeiten ein, das starre Metrum eines Musikstückes aufzubrechen: „Nüanzirungen des Taktes haben wir ja, ohne diese Stürme, immer noch genug; als da sind: längere Notengattungen, als die Taktzeiten; Punkte über und hinter den Noten; alle nuanzirenden Gefühlsaccente, als dolc., retard., < mf. etc; alle zufälligen Eintheilungen der Taktglieder und der Taktzeiten, z. B. die Veränderung der wesentlichen Zerfällung der Viertel in Achtel im 2/4 Takte in Triolen u. s. w. Alle diese Nüanzirungen des Taktes geben nun, recht angebracht, der festen und steifen Grundlage des Taktes, nebst seinem Charakteristischen, als gleichsam dem wohlzusammengefügten Balkenwerke, erst die weitere Ausbauung und Verschönerung. Der Grund aber muss fest und dauerhaft dastehen, sonst stürzen auch die lieblichsten Verzierungen in Schutt und Graus“ (AMZ 11/1809, Sp. 228).

Die aufführungspraktischen Konventionen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts duldeten also nicht nur, sondern forderten auch Abweichungen vom Metrum, um Musik als lebendige Klangrede zu gestalten. Zu den Noten, die unabhängig von ihrer Position im Takt betont werden mussten, gehörten: 1. Dissonanzen, 2. melodische Spitzentöne, 3. lange Noten, 4. gebundene Noten und 5. synkopierte Noten.

1. Dissonanzen: Eine Dissonanz musste, im Gegensatz zur Auflösung einer Dissonanz, immer betont werden, auch wenn sie auf einem unbetonten Taktteil lag. Quantz erklärte diese Regel mit Bezug auf die Affektenlehre: "Eben diese Erregung der abwechselnden Leidenschaften, ist auch die Ursache, warum die Dissonanzen überhaupt stärker als die Consonanzen angeschlagen werden müssen. Die Consonanzen setzen das Gemüth in eine vollkomene Ruhe, und Zufriedenheit: die Dissonanzen hingegen erwecken im Gemüthe einen Verdruß. (...) Je verdrüßlicher aber die Sache ist, welche unser Vergnügen stöhret; ie angenehmer kommt uns das darauf folgende Vergnügen vor. Je härter also der Verhalt der Dissonanzen ist; ie gefälliger ist ihre Auflösung " (Quantz 1752, S. 227; vgl. Bach 1753, S. 130; Mozart 1756, S. 256; Türk 1789, S. 350f.). Noch für Carl Czerny galt diese Regel: "Dissonierende (das heisst: übelstimmende) Accorde werden gemeiniglich etwas stärker ausgedrückt als die nachfolgenden consonierenden (oder wohlstimmenden)" (Czerny 1839 III, S. 6). 

2. Melodische Spitzentöne: Auch melodische Spitzen mussten betont werden. Leopold Mozart hob in seinem "Versuch einer gründlichen Violinschule" (1756) hervor: "In lustigen Stücken bringt man meistens den Accent bey der höchsten Note an, um den Vortrag recht lebend zu machen. (...) Dieß läßt sich nun aber in langsamen und traurigen Stücken nicht thun: denn da muß die Auffstreichsnote nicht abgestossen, sondern angehalten und singbar vorgetragen werden" (Mozart 1756, S. 259f.; vgl. Türk 1789, S. 337).

3. Lange Noten: Lange Noten mussten ebenfalls betont werden. Mozart, Hummel und Czerny machten auf diese Konvention aufmerksam: "Man pflegt halbe Noten, wenn sie unter kurzen Noten vermischet sind, allemal stark anzustossen und im Tone wieder nachzulassen" (Mozart 1756, S. 256; vgl. Türk 1789, S. 337). "Wenn auf das kürzere gute Takttheil ein längeres schlechtes im Gegenschlag (Aufstreich) folgt, so wird gewöhnlich auf letzteres der Nachdruck gelegt" (Hummel 1828, S. 430). "Jede Note von längerem Werthe muss mit mehr Nachdruck angeschlagen werden, als die kürzere, welche ihr vorangeht oder nachfolgt" (Czerny 1839 III, S. 5).

D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 355.
D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 355.

4. Die erste Note einer Legatogruppe: Die erste Note einer Legatogruppe sollte akzentuiert und etwas gedehnt gespielt werden. Mozart schrieb dazu: "Die erste von zwo, drey, vier oder noch mehr zusammen gezogenen Noten soll allezeit etwas stärker angegriffen, und länger angehalten; die folgenden aber im Tone sich verlierend etwas später daran geschliffen werden. Doch muß es mit so guter Beurtheilungskraft geschehen, daß der Tact auch nicht im geringsten aus seiner Gleichheit geräth" (Mozart 1756, S. 145). Auch Türk lehrte, dass "die Note, über welcher der Bogen anfängt, sehr gelinde (kaum merklich) accentuirt wird" (Türk 1789, S. 355). Diese Regel galt nach Türk auch für Noten, die auf einen schwachen Taktteil fielen: "In dem Beyspiele g) fällt also dieser gelinde Nachdruck, (wider die sonst zu befolgende Regel) auf die mit + bezeichneten schlechten Noten" (ebd.). Entsprechend formulierte Johann Peter Milchmeyer: "In der gebundenen Spielart endlich, hängt alles von den Bindungen und dem Ausdrucke ab, welchen der Componist dem Gesange des Stücks hat geben wollen, man macht hier sehr oft die schwache Zeit stark, und verändert die Finger auf derselben" (Milchmeyer 1797, S. 8; vgl. Koch 1802, Sp. 257). Auch Hummel und Czerny folgten dieser Konvention: "Wenn zwei Noten zusammengeschliffen sind, so wird die erste betont, und der Finger nicht erst bei der 3ten, sondern schon bei der zweiten Note von der Taste leicht abgezogen" (Hummel 1828, S. 431). "Jede, zwischen gestossenen Noten stehende gebundene Note muss, auch bei gleichem Werthe, mit einigem Nachdruck gespielt werden" (Czerny 1839 III, S. 7).

5. Synkopierte Noten: Auch bei der Synkopierung wurde der Akzent von einem betonten Taktteil auf einen unbetonten verlagert. Mozart betonte: "Eben also muß man auch jene Noten, die sonst dem Tacte nach sollten zertheilet werden, niemals abtheilen, oder die Abtheilung durch einen Nachdruck bemerken; sondern man muß sie nur anstossen und still aushalten, nicht anders, als wenn sie am Anfange des Viertheiles stünden" (Mozart 1756, S. 260). Ebenso lehrte Türk, dass "die synkopirten Noten gleich beym Eintritte, folglich auf dem schlechten Takttheile oder Gliede sc. stark angegeben werden müssen" (Türk 1789, S. 337). Justin Heinrich Knecht erläuterte die Akzentverschiebung am Beispiel einer halben Note, die in einem 4/4-Takt von zwei Viertelnoten eingerahmt wird und daher auf einen schwachen Taktteil fällt: "Gemeiniglich giebt man einer solchen synkopirten Note, besonders wenn man ein Accentzeichen über oder unter derselben stehet, ob ihre erste Hälfte schon auf einen schwachen Takttheil fällt, doch einen stärkern Nachdruck, als ihrer zweiten Hälfte, welche auf einen starken Takttheil zu stehen kommt. Dieses gilt auch von synkopirten Viertels- und Achtelsnoten, welche man daran erkennt, wenn sie vornen und hinten von solchen Noten eingefaßt sind, welche um die Hälfte mindern Werth, als diese, haben" (Knecht 1803, S. 31f.). Und Czerny formulierte die Regel: "Alle synkopirten Noten müssen mit besonderem Nachdruck angeschlagen werden" (Czerny 1839 III, S. 7). 

2 Einschnittsakzentuierung und periodischer Vortrag in der Romantik

D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 336.
D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 336.

Mit dem zunehmenden Einfluss des romantischen Paradigmas trat die metrische Akzentuierung in der Musik zugunsten einer vom Takt unabhängigen Phrasenbildung zurück. Dieses neue, am individuellen Gefühlsausdruck orientierte Akzentuierungsverständnis findet sich in Ansätzen bereits bei Türk: "Jeder Anfangston einer Periode sc. muß einen noch merklichern Nachdruck erhalten, als ein gewöhnlicher guter Takttheil. Genau genommen sollten selbst diese Anfangstöne mehr oder weniger accentuirt werden, je nachdem sich mit ihnen ein größerer oder kleinerer Theil des Ganzen anfängt; d. h. nach einem völligen Tonschlusse muß der Anfangston stärker markirt werden, als nach einer halben Kadenz, oder blos nach einem Einschnitte u. s. w. Hier ist ein Beyspiel in gedrängter Kürze" (Türk 1789, S. 336). 

In Friedrich Gustav Schillings "Encyclopädie der gesamten musikalischen Wissenschaften" (1835-38) wird dann der Grundgedanke der romantischen Akzentuierung deutlich. Schilling ordnete die "grammatikalischen" oder "taktischen Akzente" den "Einschnittsakzenten" unter: "Denn zu gleichmäßig und ängstlich stetig, maschinenmäßiger Takt bringt eine Versteifung in den Vortrag, die der Rohheit gleichkommt. Die taktischen Accente sind daher in der Regel lange nicht so scharf und stark aufzutragen, als die rhythmischen und vor allen die Einschnittsaccente der rhythmischen Glieder, welche die beiden äußersten (den taktischen und malenden) hauptsächlich in glückliche Vereinigung bringen, indem sie sich jene beiden eben genannten ihrer Herrschaft unterwerfen" (Schilling 1835, S. 36).

C. Czerny:  Pianoforte-Schule. 1839 III. S. 9.
C. Czerny: Pianoforte-Schule. 1839 III. S. 9.

Dennoch hielt man in der Frühromantik an der metrischen Betonung fest. Johann Nepomuk Hummel gab in seiner Klavierschule einen Überblick über alle Taktarten und ihre metrischen Strukturen (Hummel 1828, S. 60f.). Und Carl Czerny ermahnte den Interpreten: "Da es eine der ersten Pflichten des Spielers ist, den Hörer nie über die Takteintheilung in Zweifel zu lassen, so führt dieses schon von selber mit sich, dass man, wo es nöthig ist, jeden Anfang eines Takts, oder gar wohl jeden guten Takttheil durch einen kleinen Nachdruck merkbar mache. Diess ist vorzüglich nothwendig, wo die Composition hierin in Zweifel lässt" (Czerny 1839 III, S. 6). Die Akzentuierung wurde jedoch variabler und individueller gestaltet, z. B. in Wiederholungen oder schnelleren Passagen: "Wenn ein einfacher Gesang sich mehrmal wiederholt, so kann er, durch stets veränderte Accentuirung, auf sehr mannigfache Weise verändert, und dadurch immer neu und interessant erhalten werden" (Czerny 1839 III, S. 9). "Auch bei schnelleren Passagen kann der Accent einmal auf den schwereren, einmal auf den leichteren Takttheil fallen" (Czerny 1839 III, S. 9).

In der Romantik löste sich die Melodie allmählich vom Takt. Man bevorzugte ein gesangliches Klangideal, weite Melodiebögen und eine weiche Klangfärbung. Tempo und Dynamik richteten sich nach dem Melodieverlauf. Die Bogenführung der Streicher wurde weicher, die Akzentuierung reduziert. Akzentuiert wurden nur die Töne, die einer musikalischen Phrase Kontur gaben. So schrieb Franz Liszt 1856 in seinem Vorwort zur Gesamtausgabe seiner Orchesterdichtungen: "Gleichzeitig sei mir gestattet zu bemerken, daß ich das mechanische, taktmässige, zerschnittene Auf- und Abspielen, wie es an manchen Orten noch üblich ist, möglichst beseitigt Wünsche, und nur den periodischen Vortrag, mit dem Hervortreten der besonderen Accente und der Abrundung der melodischen und rhythmischen Nuancirung, als sachgemäss anerkennen kann." Dissonante Akkorde konnten auch piano, konsonante Akkorde auch forte gespielt werden (Moßburger, H.: Harmonik und Aufführungspraxis).

3 Die Akzentsetzung in der klassisch-frühromantischen Gitarrenmusik

In den Gitarrenlehrbüchern des frühen 19. Jahrhunderts wurde das Thema der Akzentuierung kaum behandelt. In einer deutschen Übersetzung von Carullis überarbeiteter "Guitarre Schule" (1830) findet sich immerhin der Hinweis, dass die erste Note einer Triole oder Sextole akzentuiert werden muss: "Oft wird eine Note in drei gleiche Theile zerlegt, diese heissen dann Triole (...). Die erste der drei Noten wird beim Vortrage immer etwas hervorgehoben. Auch findet man sechs Noten, die nur so viel gelten, als gewöhnlich vier derselben Gattung (...). Diese heissen dann Sextole, und dürfen nicht wie zwei Triolen derselben Notengattung betont werden" (Carulli 1839, S. 5; vgl. dagegen Carulli 1830, S. 1). 

Die Zurückhaltung in der Frage der richtigen Akzentuierung hatte zwei Gründe: Zum einen richteten sich die meisten Gitarrenschulen an Anfänger und vermittelten diesen nur musikalische Grundkenntnisse. Wollte man sich weitergehende Kenntnisse aneignen, musste man Gitarrenunterricht nehmen. Zum anderen enthielten die meisten Gitarrenschulen Übungsstücke mit Fingersätzen und gaben damit Hinweise auf die richtige Betonung der Stücke. Die Regeln für den Fingersatz der rechten Hand dienten gewissermaßen als Ersatz für den Unterricht in musikalischer Akzentuierung.

F. Sor: Guitarre-Schule. 1831. Ex. 20.
F. Sor: Guitarre-Schule. 1831. Ex. 20.

Die Gitarristen nutzten das Gewicht der einzelnen Finger, um die natürlichen Akzente des Taktes zu betonen. Der stärkste Finger setzte die metrischen Akzente. Wurde beispielsweise eine Saite abwechselnd mit Daumen und Zeigefinger angeschlagen, so entstand ein Klang, der aus einem Wechsel von starken und etwas schwächeren Akzenten bestand. Dasselbe geschah beim abwechselnden Anschlag mit Mittel- und Zeigefinger. Diese Anschlagtechnik wurde von den Lautenisten der Renaissance entwickelt und bis ins 19. Fernando Sor ging in seiner Gitarrenschule kurz auf die funktionale Bedeutung des Fingersatzes für die Akzentuierung ein: "Dieser Fingersatz hat nicht allein zum Zweck, die Zahl der Finger so viel als möglich zu sparen, sondern auch, mein Verfahren zum Ausdruck des musikalischen Accents zu machen, welcher nichts anders ist, als der Anfang eines jeden der aliquoten Theile des Tactes" (Sor 1831, S. 23). Der Fingersatz der Anschlagshand wurde so gewählt, dass die Saiten bei betonten Zählzeiten mit dem Daumen oder Mittelfinger und bei unbetonten Zählzeiten mit dem Zeigefinger angeschlagen wurden.

F. Carulli: Méthode Complette Pour Guitare ou Lyre. Seconde Edition. 1819. S. 30.
F. Carulli: Méthode Complette Pour Guitare ou Lyre. Seconde Edition. 1819. S. 30.

Ferdinando Carulli benutzte die Legato-Technik auf elegante Weise, um die starken Taktteile einer musikalischen Phrase zu betonen. Die Note, die auf den starken Taktteil fiel, wurde gezupft, die Note, die auf den schwachen Taktteil fiel, wurde an diesen gebunden (vgl. Carulli 1819, S. 30).

In der Romantik änderte sich das Verständnis von Musik. Musik wurde als Ausdruck des individuellen Gefühlslebens verstanden. Ihre Sprache folgte keinen festen Regeln außer denen des Tondichters selbst. Dementsprechend verlor die Betonung, die einem metrischen Schema folgte, an Bedeutung. An ihre Stelle trat eine expressive Phrasierung, die sich vom Metrum emanzipierte. Für den Wechselschlag hatte dies zur Folge, dass bei der Wahl des Fingersatzes nicht mehr konsequent auf die Regel des stärksten Fingers geachtet wurde. Der übliche Fingersatz p - i oder m - i konnte problemlos durch i - m ersetzt werden, wie z. B. bei Mertz und Aguado

Dieses neue Verständnis der Akzentuierung, das sich am individuellen emotionalen Ausdruck orientierte, kündigte sich bereits bei D. Joly an: "Viele Leute glauben, dass die Gitarre nicht ausdrucksfähig ist, und das absolute Schweigen aller Autoren von Methoden (zu diesem Thema) scheint dieser Behauptung ein gewisses Gewicht zu verleihen. Dieses Instrument ist zweifellos weniger zum Ausdruck geeignet als die Blas- oder Streichinstrumente; aber die Leichtigkeit, mit der man alle möglichen Linien gleiten lassen und sein Spiel vom Pianissimo zum Fortissimo (und umgekehrt) nuancieren kann, wird demjenigen Ausdrucksmittel geben, der, nachdem er sich bemüht hat, dem Instrument saubere und reine Töne zu entlocken, genügend Scharfsinn besitzt, um die Absicht des Komponisten zu erfassen. Wenn man das folgende Stück mit einem guten Instrument und allen Nuancen, die es erfordert, aufführt, wird man (so hoffe ich) feststellen, dass die Gitarre ausdrucksfähig ist" (Joly 1819, S. 68 übers.). Das folgende Musikbeispiel, eine Romanze, enthielt gebrochene Akkorde, Arpeggien, Tremoli, Legati, Stakkati, Flageoletts, abrupte Lautstärkeänderungen, dynamische Übergänge, agogische Tempowechsel, Klangregister, Lagenwechsel, leere und gegriffene Saiten - alles Mittel, um die Ausdrucksfähigkeit der Gitarre zu demonstrieren

Auch Mrs. Joseph Kirkman machte in ihrer Gitarrenschule deutlich, dass die musikalische Darbietung sich vor allem am Gefühl zu orientieren habe: "Um die nun vorgestellten Kompositionen auszuführen, ist nicht nur fundiertes Wissen erforderlich, sondern auch jene Art der Ausführung, die das Ergebnis von Geschmack und Empfindsamkeit ist; die wahren Voraussetzungen, die den Interpreten befähigen (nachdem mechanische Perfektion erlangt worden ist), in all jenen Köstlichkeiten des Lichts, der Schattierung und des Gefühls zu überragen, die richtig als Stil bezeichnet werden" (Kirkman 1842, S. 29 übers.).