Das Tempo

1 Das Tempo als musikalische Bewegung

Wenn wir heute von "Tempo" sprechen, meinen wir in der Regel die Geschwindigkeit, mit der ein Musikstück gespielt werden soll. Gemessen wird die Geschwindigkeit in Schlägen pro Minute (Beats Per Minute), einer Maßeinheit, die sich nach der Erfindung des Metronoms im Jahre 1815 langsam, aber sicher durchgesetzt hat. Dieses rein mechanistische Verständnis von "Tempo" war dem 18. und beginnenden 19. Jahrhundert fremd. Johann Mattheson (1681-1764) unterschied in seinem Traktat "Der vollkommene Capellmeister" (1739) das Zeitmaß begrifflich von der Bewegung: "Die Ordnung aber dieser Zeitmaasse ist zweierley Art: eine betrifft die gewöhnlichen mathematischen Eintheilungen; durch die andre hergegen schreibt das Gehör, nach Erfordern der Gemüths-Bewegungen, gewisse ungewöhnliche Regeln vor, die nicht allemahl mit der mathematischen Richtigkeit übereinkommen, sondern mehr auf den guten Geschmack sehen. Die erste Art nennet man auf Frantzösisch: la Mesure, die Maaß, nehmlich der Zeit; das andere Wesen aber: le Mouvement, die Bewegung" (Mattheson 1739, S. 171). Er ordnete das Zeitmaß der musikalischen Bewegung unter: "die Mensur ist ein Weg; dessen Ende aber die Bewegung" (ebd. S. 173).

Der Begriff "Tempo" bezeichnete im 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht das physikalische Zeitmaß, sondern die Bewegung eines Stückes. Da Musik damals als Klangrede verstanden wurde, die das Herz des Zuhörers berührte, musste die Bewegung eines Stückes gefühlsmäßig bestimmt werden. Jedes Gefühl, jeder Affekt hatte seine eigene Bewegung, der man mit dem Tempo eines Stückes entsprechen musste. Das bedeutete nicht, dass die Tempobestimmung eine rein subjektive Angelegenheit war. Vielmehr musste die Tempobestimmung den Regeln des guten Geschmacks folgen, die ihren Ausdruck in 1. der Taktart, 2. den Notenwerten und 3. dem Tempowort fanden.

1.1 Die Taktart

Johann Philipp Kirnberger. Lithografie von H. E. von Winter. 1815.
Johann Philipp Kirnberger. Lithografie von H. E. von Winter. 1815.

Das erste Hilfsmittel zur Bestimmung des Tempos eines Musikstücks war die Taktart. Jede Taktart hatte, wie Johann Philipp Kirnberger (1721-1783) in seinem Werk "Die Kunst des reinen Satzes in der Musik" (1774-79) hervorhob, eine "natürliche Bewegung", ein "Tempo giusto" (Kirnberger 1776, S. 106). Das tempo giusto einer Taktart stand in engem Zusammenhang mit der für sie typischen Tanzart: "Jedes Tanzstueck hat seine gewisse Taktbewegung, die durch die Taktart und durch die Notengattungen, die darin angebracht werden, bestimmt wird. (...) So ist z. B. eine Loure in dem 3/2 Takt von langsamerer Taktbewegung, als eine Menuet in dem 3/4 Takt, und diese ist wiederum langsamer als ein Passepied in dem 3/8 Takt. In Ansehung der Notengattungen haben die Tanzstücke, worin Sechszehnthel und Zweyunddreyßigtheile vorkommen, eine langsamere Taktbewegung, als solche, die bey der nemlichen Taktart nur Achtel, höchstens Sechszehntel, als die geschwindesten Notengattungen vertragen. So hat z. B. eine Sarabande in dem 3/4 Takt eine langsamere Taktbewegung, als eine Menuet, obgleich beyde in einerlei Taktart gesetzt sind" (Kirnberger 1776, S. 106f.).

Je nachdem, ob die Hauptzeiten des Taktes größer oder kleiner, die Taktart gerade oder ungerade war, ergab sich eine andere musikalische Bewegung und damit ein anderes Tempo. Johann Georg Sulzer (1720-1779) erläuterte dies in seiner "Allgemeine[n] Theorie der Schönen Künste" (1771-74): "Hieraus werden die Vortheile der Unterabtheilungen der geraden und ungeraden Taktart in verschiedene Takte von längeren oder kürzeren Noten der Hauptzeiten begreiflich: denn dadurch erhält jeder Takt seine ihm eigene Bewegung, sein ihm eigenes Gewicht im Vortrag, folglich auch seinen ihm eigenen Charakter" (Sulzer 1774, S. 1133). Als Faustregel galt: Je größer der Nenner einer Taktart, desto schneller, lebhafter und leichter war die Bewegung eines Stückes. Umgekehrt waren ungerade Taktarten lebhafter als gerade. Das hatte zur Folge, dass, wenn in einem Stück ein gerader Takt in einen ungeraden überging, eine Beschleunigung des Tempos eintrat. Kirnberger und Sulzer haben den Bewegungscharakter der einzelnen Taktarten in ihren Schriften anschaulich beschrieben:

1.1.1 Gerade Taktarten

"Ueberhaupt ist also anzumerken, daß von den Tacktarten, die gleich viel Zeiten haben, der, welcher grössere, oder längere Tackttheile hat, natürlicher Weise etwas ernsthafter ist, als der von kurzen Zeiten: so ist der 4/4 Tackt weniger munter, als der 4/8 Tackt; der 3/2 Tackt schwerfälliger, als der 3/4, und dieser nicht so munter, als der 3/8 Tackt" (Kirnberger 1776, S. 133).

J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 118.
J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 118.

2/2 Takt: "Er wird schweer, aber noch einmal so geschwind, als seine Notengattungen anzeigen, vorgetragen, und ist daher zum ernsthaften und feurigen Ausdruk, vornehmlich zu Fugen vorzüglich geschikt, und verträgt in diesem ihm eigenthümlichen Styl und Bewegung keine geschwindere Notengattungen, als Achtel" (Sulzer 1774, S. 1134). "Der Zweyzweytel oder besser der Allabrevetackt, der durchgängig mit C, oder auch mit 2 bezeichnet wird, ist in Kirchenstücken, Fugen und ausgearbeiteten Chören von dem vielfältigsten Gebrauch. Von dieser Tacktart ist anzumerken, daß sie sehr schwer und nachdrücklich, doch noch einmal so geschwind, als ihre Notengattungen anzeigen, vorgetragen wird, es sey denn, daß die Bewegung durch die Beywörter grave, adagio &c. langsamer verlangt wird" (Kirnberger 1776, S. 118).

J. G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste Bd. 2. 1774. S. 1137.
J. G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste Bd. 2. 1774. S. 1137.

6/4 Takt: "Eben so verhält es sich mit den aus ihr entstehenden Sechsvierteltackt von zwey triplirten Zeiten, doch ist das Tiempo giusto dieser Tackart etwas gemäßigter. Beyde Tacktarten vertragen keine kürzere Notengattungen, als Achtel" (ebd.). "Schweer im Vortrag, wie der Allabrevetakt, mit dem er auch wegen seines ernsten obgleich lebhaften Ganges, das Kirchenmäßige gemein hat. Er besteht aus langen Notengattungen, von denen die Achtel die geschwindesten sind" (Sulzer 1774, S. 1134). "Nach dem, was von der innern Quantität der Takttheile angezeiget worden, bedarf es wol keines Beweises, daß der 6/4 von dem 3/2, oder der 6/8 von dem 3/4, obgleich beyde Takte dieselbe Anzahl einerley Notengattungen in sich begreifen, durch das verschiedene Taktgewicht unendlich voneinander unterschieden sind" (ebd. S. 1137).

J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 119.
J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 119.

2/4 Takt: "Er hat (...) die Bewegung des vorhergehenden Taktes [= 2/2 Taktes], wird aber weit leichter vorgetragen, und verträgt von den Zweyvierteln bis zu den Sechszehntheilen und einigen wenigen auf einander folgenden Zwey und Dreißigtheilen alle Notengattungen. Er schikt sich zu allen leichteren und angenehmen Gemüthsbewegungen, die nach Beschaffenheit des Ausdruks durch andante oder adagio etc. gemildert, oder durch vivace oder allegro etc. noch lebhafter gemacht werden können" (Sulzer 1774, S. 1134). "Der Zweyvierteltackt hat die Bewegung des Allabrevetackts, wird aber weit leichter vorgetragen" (Kirnberger 1776, S. 118). "So wol der Zweyviertel- als der aus ihm entstehende Sechsachteltakt sind in Cammer- und Theatralstücken von dem vielfältigsten Gebrauch. In der ihnen natürlichen Bewegung sind Sechszehntel und einige wenige auf einander folgende Zweyunddreißigtheile ihre kürzeste Notengattungen" (ebd. S. 119). "Der 2/4 ist auch lebhaft, aber schon mit mehr Leichtigkeit verbunden, kann auch deswegen zum Tändelnden gut gebraucht werden" (ebd. S. 133).

J. G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste Bd. 2. 1774. S. 1137.
J. G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste Bd. 2. 1774. S. 1137.

6/8 Takt: "Leicht und angenehm, im Vortrag und Bewegung, wie der 2/4. Sechszehntheile sind seine geschwindesten Noten" (Sulzer 1774, S. 1134). "So wol der Zweyviertel- als der aus ihm entstehende Sechsachteltakt sind in Cammer- und Theatralstücken von dem vielfältigsten Gebrauch. In der ihnen natürlichen Bewegung sind Sechszehntel und einige wenige auf einander folgende Zweyunddreißigtheile ihre kürzeste Notengattungen" (Kirnberger 1776, S. 119).

4/4 Takt: "Er verträgt übrigens alle Notengattungen, und hat einen zwar ernsthaften und gesetzten, aber keinen schweeren gravitätischen Gang, und ist sowol in der Cammer- und theatralischen Schreibart, als auch in der Kirche, von vielfältigem Gebrauch" (Sulzer 1774, S. 1135). "Der kleine Viervierteltackt hat eine lebhaftere Bewegung, und ist von weit leichterem Vortrag [= als der große Viervierteltakt]. Er verträgt bis auf die Sechszehntel alle Notengattungen, und ist in allen Schreibarten von dem vielfältigsten Gebrauch" (Kirnberger 1776, S. 123). "Zu einem lebhaften und erweckenden Ausdruck, der aber noch etwas nachdrückliches hat, schicket sich der 4/4 Takt am besten" (ebd. S. 133).

J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 123.
J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 123.

4/8 Takt: Die "Bewegung dieses Taktes" ist "nicht so langsam, als der vorhergehende Takt [= 4/4 Takt], aber auch nicht so geschwind, als der 2/4 seyn kann" (Sulzer 1774, S. 1135). "Der Vierachteltackt ist von den Tacktarten von vier Zeiten der leichteste im Vortrag und in der Bewegung. Er unterscheidet sich von dem 2/4 Tackt durch das Gewicht seiner Zeiten, die alle gleich schwer sind, statt daß im 2/4 Tackt die erste und dritte Zeit das Tacktgewicht fühlen lassen, und ist daher von etwas langsamerer Bewegung, als der 2/4 Tackt" (Kirnberger 1776, S. 123). "Der 4/8 Tackt ist schon ganz flüchtig, und seine Lebhaftigkeit hat nichts mehr von dem Nachdruck des 4/4 Tacktes" (ebd. S. 133).

J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 124.
J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 124.

12/8 Takt: Bei der Beschreibung des 12/8-Taktes bezog sich Sulzer auf die natürliche Bewegung des 4/8-Taktes (Sulzer 1774, S. 1135). "Mit dem aus dem Vierviertel- entstehenden Zwölfachteltackt von triplirten Zeiten hat es die nemliche Bewandniß. Einige ältere Componisten (...) haben oft Stücke im 12/8 Tackt, die aus lauter Sechszehntel bestanden, mit 24/16 bezeichnet, anzudeuten, daß die Sechszehntel leicht und flüchtig und ohne den geringsten Druck auf der ersten Note jeder Zeit vorgetragen werden sollten" (Kirnberger 1776, S. 123).

1.1.2 Ungerade Taktarten

"Ueberhaupt bringt die ungerade Taktart wegen der gedritten Fortschreitung ihrer Hauptzeiten eine größere Lebhaftigkeit in jedem Ausdruk, und ist daher zur Schilderung lebhafter Gemüthsbewegungen schiklicher, als die gerade Taktart " (Sulzer 1774, S. 1135).

3/2 Takt: "Der Dreyzweyteltackt ist wegen des schweren und langsamen Vortrags, den seine Nottengattungen bezeichnen, zumal in Kirchenstücken, von dem vielfältigsten Gebrauch. In diesem Styl sind Viertel, höchstens Achtel, seine geschwindesten Notengattungen. Im Cammerstyl können auch wol Sechszehntel in dem 3/2 Tackt angebracht werden" (Kirnberger 1776, S. 127). "Schwerfällig und sehr ernsthaft ist der 3/2 Tackt, wenn man nur nicht zu viele kleine Noten darin anbringt" (ebd. S. 133).

J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 129.
J. P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik Bd. 2/1. 1776. S. 129.

9/4 und 9/8 Takt: "Der aus dem 3/2 entstehende Neunvierteltackt von drey triplirten Zeiten kömmt zwar selten vor, weil man statt seiner sich des 9/8 Tackts bedienet. Man begreift aber leicht, daß beyde Tacktarten in Ansehung des Vortrags und der Bewegung, die sie bezeichnen, sehr von einander unterschieden sind. Im Kirchenstyl, wo überhaupt ein schwerer und nachdrücklicher Vortrag mit einer gesetzten und langsamen Bewegung verbunden ist, ist der 9/4 dem 9/8 Takt weit vorzuziehen, denn der nemliche Gesang, der in jenen Tacktart einen ernsthaften Ausdruck annimmt, kann in dieser leicht den Schein des Tändelnden gewinnen" (ebd. S. 128f.). "Der aus dem 3/4 entstehende Neunachteltakt von drey triplirten Zeiten hat die Bewegung des 3/4 Taktes, doch werden die Achtel leichter als in 3/4 vorgetragen" (ebd. S. 129).

3/4 Takt: "Der Dreyvierteltakt ist wegen des leichteren Vortrags in der Kirchenschreibart nicht so gewöhnlich als der 3/2, dahingegen in der Cammer- und theatralischen Schreibart von dem vielfältigsten Gebrauch. Seine natürliche Bewegung ist die einer Menuet, und er verträgt in dieser Bewegung nicht wohl viele nach einander folgende Sechszehnthel, noch weniger Zwey und Dreyßigtheile" (Kirnberger 1776, S. 129). "Sanft und edel scheinet der Charakter des 3/4 Tacktes zu seyn, besonders, wenn er blos, oder doch meistentheils aus lauter Vierteln besteht " (ebd. S. 133).

3/8 Takt: "Denn bey der natürlichen Bewegung des 3/8, oder eines Passepieds, fühlt man außer dem Hauptgewicht der ersten Taktnote noch ziemlich deutlich das Gewicht der übrigen Zeiten; auch verträgt dieser Takt Sechszehntheile" (Sulzer 1774, S. 1136). "Der Dreyachteltakt hat die lebhafte Bewegung des Passepieds; er wird leicht, aber nicht ganz tändelnd vorgetragen, und ist in der Cammer- und theatralischen Musik von grossem Gebrauch " (Kirnberger 1776, S. 130). "Der 3/8 Tackt aber ist von einer Munterkeit, die etwas muthwilliges an sich hat" (ebd. S. 133).

1.2 Die Notenwerte

Das zweite Mittel zur Bestimmung des Tempos waren die kleinsten Notenwerte oder genauer gesagt die relative Häufigkeit, mit der die kleinsten Notenwerte in einem Stück vorkamen: "Der Spiehler oder Sänger muß sich schon durch die Erfahrung ein gewisses Maaß von der natürlichen Geltung der Notengattungen erworben haben; denn man hat Stüke, die gar keine Bezeichnung der Bewegung haben, oder blos mit Tempo giusto bezeichnet sind. Er muß daher die Notengattungen des Stüks übersehen. Ein Stük mit allegro bezeichnet, dessen mehreste und geschwindeste Noten Achtel sind, hat eine geschwindere Taktbewegung, als wenn diese Noten Sechzehntel sind, und eine gemäßigtere, wenn sie zwey und dreißig Theile sind; so auch in den übrigen Gattungen der Bewegung. Auf diese Art ist er im Stande, die Bewegung des Stüks ziemlich genau zu treffen" (Sulzer 1774, S. 1248).

Ein Stück zum Beispiel, das Zweiunddreißigstel enthielt, musste objektiv gesehen langsamer gespielt werden als ein Stück, das hauptsächlich aus Sechzehnteln oder Achteln bestand. Subjektiv betrachtet war es aber schneller, weil die Zweiunddreißigstel-Noten den Eindruck einer schnelleren Bewegung vermittelten: "In Ansehung der Notengattungen haben die Tanzstücke, worin Sechszehnthel und Zweyunddreyßigtheile vorkommen, eine langsamere Taktbewegung, als solche, die bey der nemlichen Taktart nur Achtel, höchstens Sechszehntel, als die geschwindesten Notengattungen vertragen. (...) Also wird das Tempo giusto durch die Taktart und durch die längeren und kürzeren Notengattungen eines Stücks bestimmt" (Kirnberger 1776, S. 107).

1.3 Das Tempowort

Das dritte Hilfsmittel zur Tempobestimmung war das Tempowort. Es gab an, ob ein Musikstück schneller oder langsamer als üblich gespielt werden sollte. Das Tempowort war keine absolute Zeitangabe, der man eine Metronomzahl zuordnen konnte, sondern es bezog sich relativ auf das natürliche Tempo der jeweiligen Taktart und modifizierte dieses: "Hat der junge Tonsetzer erst dieses [= das Tempo giusto] ins Gefühl, denn begreift er bald, wie viel die Beywörter largo, adagio, andante, allegro, presto, und ihre Modificationen als larghetto, andantino, allegretto, prestissimo, der natürlichen Taktbewegung an Geschwindigkeit oder Langsamkeit zusetzen oder abnehmen (Kirnberger 1776, S. 107). "Soll nun ein Stük einen leichten Vortrag, zugleich aber eine langsame Bewegung haben, so wird der Tonsetzer nach Beschaffenheit des leichten oder leichteren Vortrages einen Takt von kurzen oder kürzern Zeiten dazu wählen, und sich der Worte andante, oder largo, oder adagio etc. nachdem die Langsamkeit des Stüks die natürliche Bewegung des Taktes übertreffen soll, bedienen; und umgekehrt: soll ein Stük schwer vorgetragen werden, und zugleich eine geschwinde Bewegung haben, so wird er einen nach Beschaffenheit des Vortrags schweren Takt wählen, und ihn mit vivace, allegro oder presto etc. bezeichnen. Uebersieht ein erfahrner Ausführer nun die Notengattungen eines solchen Stüks, so ist er im Stande, den Vortrag und die Bewegung desselben genau mit den Gedanken des Tonsetzers übereinstimmend zu treffen; wenigstens so genau, als es durch keine andere Zeichen, durch keine Worte, und wenn sie noch so deutlich wären, angedeutet werden könnte" (Sulzer 1774, S. 1133).

Darüber hinaus hatte das Tempowort die Funktion, "Anzeige des herrschenden Hauptaffects" zu sein (Quantz 1752, S. 108). Die Tempowörter, so Heinrich Christoph Koch (1749-1816) in seinem "Musikalische[n] Lexikon" (1802), seien "so beschaffen (...), daß sie entweder blos die Bewegung des Zeitmaaßes, oder blos die Vortragsart, oder auch beydes zugleich bezeichnen" (Koch 1802, Sp. 63). "Beyde Fälle setzen einen gebildeten Geschmack und viel Erfahrung voraus, und es ist, wie man oft fälschlich glaubt, keine Kleinigkeit, dasjenige Zeitmaaß zu treffen, in welchem ein Tonstück seine beste Wirkung thut" (ebd. Sp. 63f.).

Georg Simon Löhlein (1725-1781) stellte in seiner "Anweisung zum Violinspielen" (1774) eine Liste von Tempovorschriften und den ihnen entsprechenden Affekten zusammen. Die Auflistung der Tempowörter erfolgte nach dem Grad der Geschwindigkeit:

"Den herrschenden Affekt eines Stücks zu bestimmen, hat man verschiedene Kunstwörter von den Italiänern angenommen. Es ist wahr, manche von diesen Wörtern würden sich eben so gut deutsch geben lassen; allein in vielen Fällen hat man bisher noch keine passende Uebersetzung gefunden. Wir wollen also beym alten bleiben, und sie in der angenommenen italiänischen Sprache andeuten.

Eine mäßige Freude wird zum Beyspiele ausgedrückt, durch:

Vivace, Munter, lebhaft.

AIlegro, Lustig, freudig.

Eine Freude, die mehr Ausgelassenheit hat:

Allegro assai, Lustig genug.

Allegro di molto, Sehr Lustig.

Presto, Geschwind.

Eine ausschweifende Freude:

Prestissimo, Aufs geschwindeste.

Eine wüthende Ausgelassenheit:

Allegro furioso, hurtig und heftig. 

Eine gemäßigte Freude, die mehr Gelassenheit hat:

Allegro moderato, Mäßig.

Tempo giusto, In angemessener Bewegung.

Poco allegro, Etwas lustig.

Allegretto, Etwas weniger lustig.

Scherzante, Spaßhaft, scherzend.

Molto andante, Im starken Schritte.

Die Pracht.

Maestoso, Pomposo, Prächtig, stolz.

Das Zärtliche.

Affetuoso, oder: con affetto, Mit Affekte.

Cantabile, Singend.

Arioso, Arienmäßig.

Die Gelassenheit:

Andante, Gehend.

Andantino, oder poco andante, Im sachten Schritte.

Larghetto, Etwas weitläufig.

Die Traurigkeit:

Mesto, Traurig.

Adagio, Langsam.

Largo, Weitläufig.

Lento, Träg, saumselig.

Grave, Schwerfällig." (Löhlein 1781, S. 104-106).

Einem musikalischen Werk des 18. oder frühen 19. Jahrhunderts würde man jedoch nicht gerecht, wenn man es auf einen einzigen, typisierten Affekt reduzieren würde. Johann Joachim Quantz (1697-1773) weist in seiner Flötenschule darauf hin, dass ein Musikstück hinsichtlich seines Affektgehalts äußerst vielschichtig sein kann: "Alle diese Wörter, wenn sie mit gutem Bedachte vorgesetzet sind, erfodern jedes einen besondern Vortrag in der Ausführung: zugeschweigen, daß, wie ich schon gesaget habe, jedes Stück von oben bemeldeten Charakteren, unterschiedene Vermischungen von pathetischen, schmeichelnden, lustigen, prächtigen, oder scherzhaften Gedanken in sich haben kann, und man sich also, so zu sagen, bey jedem Tacte in einen andern Affect setzen muß, um sich bald traurig, bald lustig, bald ernsthaft, u. s. w. stellen zu können" (Quantz 1752, S. 108). Und Kirnberger betonte, dass es die Aufgabe eines Musikers sei, "die besondern Schattirungen der Leidenschaften auszudrücken": "Es hat nemlich jede Leidenschaft ihre Grade der Stärke und, wenn ich mich so ausdrücken kann ihr tieferes, oder flacheres Gepräge. Die Freude z. B. kann feyerlich und gleichsam erhaben; sie kann rauschend, oder auch hüpfend und muthwillig seyn" (Kirnberger 1776, S. 134). 

Bei einigen Tempowörtern herrschte Uneinigkeit darüber, ob sie langsamere oder schnellere Tempi bezeichnen. Bei den Tempi Largo und Adagio waren z. B. Mozart und Türk der Meinung, dass Largo das langsamere Tempo sei. Quantz und Bach hielten es für das schnellere Tempo (vgl. Mozart 1756, S. 49; Türk 1789, S. 108; Quantz 1752, S. 139; Bach 1762, S. 304). Dementsprechend wurde das Larghetto entweder als mäßiges Tempo verstanden, dessen Zeitmaß "dem des Andante gleich" ist (Koch 1802, Sp. 890), oder aber als langsames Tempo, das zwischen Adagio und Largo steht.

Ähnliche Unklarheiten gab es auch bei den Tempobezeichnungen Andante und Andantino. Einige hielten das Andante für das schnellere Tempo, andere das Andantino. Definierte Koch "Andantino" als "eine Bewegung, die etwas geschwinder ist, als Andante" (Koch 1802, Sp. 143), so behauptete Knecht das Gegenteil: "Einige Tonkünstler sind der Meinung, das Andantino müsse etwas geschwinder gehen, als das Andante; allein da jenes das Verkleinerungswörtchen von diesem ist, so ist der Fall umgekehrt: denn Andantino verhält sich zu Andante, wie Allegretto zu Allegro" (Knecht 1803, S. 35; vgl. Türk 1789, S. 109; Hummel 1828, S. 66). Johann Daniel Andersch löste den Streit in seinem "Musikalische[n] Wörterbuch" (1829) dahingehend, dass das Diminutiv Andantino nicht die Geschwindigkeit, sondern den leichteren Charakter eines Stückes bezeichne: "Noch sind die Partheien ungewiss, ob dieses langsamer oder geschwinder als Andante vorzutragen ist. Wahrscheinlich ist es, dass die, jene Benennung zuerst anwendenden Tonsetzer, nicht den Grad der Bewegung, sondern nur eine mindere Grösse und Bedeutenheit, oder einen leichtern weniger ernsthaften Gehalt ihrer Arbeit damit bezeichnen wollten; so wie überhaupt das ino oder ina, z. B. bei Sonatina, Cavatina, Cantilena u.s.w. eine mindere Grösse dieser Tonstücke andeutet, und im allgemeinen nur einem kleinen, niedlichen, gefälligen, zärtlichen Gegenstande zugetheilt wird. Um den Grad der Bewegung sicher zu bestimmen, hatte man ja schon einen Ueberfluss bezeichnender Worte, als piu, molto, troppo, assai, poco, meno, non tanto, non molto u.s.w. Von Larghetto und Allegretto gilt wohl ebenfalls obige Bemerkung" (Andersch 1829, S. 17f.).

Die zeitgenössischen Gitarristen waren sich in der Tempobezeichnung weitgehend einig: Larghetto und Andantino stellten gegenüber Largo und Andante die schnelleren Tempi dar (Gräffer 1811, S. 48; Molino 1813, S. 4; Blum 1818, S. 4f.; Kníže 1820, S. 8; Lehmann 1820, S. 4; Seegner 1828, S. 5; Carcassi 1835, S. 8; Aguado 1843, § 290). Dementsprechend verwendete Fernando Sor "Andantino" als Tempobezeichnung im Gegensatz zu "Andante" nur für leichtere Taktarten. Nur Carulli, Bathioli und Mertz sahen im Andantino das langsamere Tempo (Carulli 1830, S. 4; Bathioli 1825 Theil I/1, S. 18; Mertz 1848, S. 9).

2 Das Tempo als messbare Geschwindigkeit

In der Zeit nach der Französischen Revolution verlor das im Ancien Régime entwickelte System der Tempobestimmung an Bedeutung. Die höfischen Tänze kamen aus der Mode und mit ihnen verloren die Taktarten ihr tempo giusto. Die Folge war, dass der neuen, bürgerlichen Musikkultur ein Tempo-System zur Orientierung fehlte. So beklagte ein anonymer Autor in der "Allgemeine[n] Musikalische[n] Zeitung" vom 21. Januar 1807, dass "es, wenn das so fort gehet, mit den Tempos in Deutschland dahinkommen wird, wie mit der Orthographie - dass wir gar keine mehr haben, sondern fast alles der Willkühr hingegeben ist" (AMZ 9/1807, Sp. 265f.). Man suchte daher nach einer verlässlichen, von gesellschaftlichen Konventionen unabhängigen Grundlage der Tempobestimmung und fand sie in der technischen Mechanik. Dementsprechend schlug der zitierte Autor vor: "... so, scheint mir's, muss man erst wieder einen mechanischen Halt suchen und sich durch diesen von neuem befestigen, ehe man der Freyheit wieder mehr Raum giebt; und dazu ist und kann nichts besser seyn, als allgemeine Einführung überall gültiger Taktmesser, welche deshalb wol niemals so nöthig gewesen sind und so wohlthätig werden konnten, als eben jetzt" (ebd. Sp. 266f.).

Auch Friedrich Guthmann forderte in seinem Aufsatz „Ein neuer Taktmesser, welcher aber erst erfunden werden soll“ die Einführung eines Taktmessers, warnte aber davor, den mechanischen Takt des Gerätes auf einen ganzen Satz zu übertragen: „Wer das Tempo nach dem Taktmesser pünktlich durch ganze Sätze befolgen kann und will, der muss wenigstens kein sehr reizbarer und gefühlvoller Spieler seyn; eine solche Beherrschung der Empfindung muss auch unvermeidlich Steifheit in den Vortrag bringen, und ist in den meisten Fällen, selbst dem Geiste der wahren Musik zuwider. Ich glaube daher, dass Taktmesser, ihrer eigentlichen Bestimmung nach, mehr Anfangs das Tempo zeigen sollen, als dass man ihnen in der Folge des Satzes bey zumehmendem Feuer des Vortrags und gedrängterer Fülle der Ideen strenge zu folgen brauchte. - Die grössten Künstler haben auch bewiesen, dass sie nicht nach einem solchen mechanischen Instrumente spielen konnten, dass es ihrer Empfindung zuwider war, und sie unwillkürlich davon abwichen. Allein das herrschende Zeitmaas eines Tonstücks beym Anfange desselben bestimmt anzugeben - dazu sind die Taktmesser für Jeden ein herrliches Mittel" (AMZ 9/1807, Sp. 117f.).

Ähnlich äußerte sich der Musiktheoretiker Gottfried Weber (1779-1839) in seinen Aufsätzen "Noch einmal ein Wort über den musikalischen Chronometer oder Taktmesser" (1813) und „Ueber die jetzt bevorstehende wirkliche Einführung des Taktmessers“ (1814): „Es soll nur dienen als Dollmetscher zwischen dem Componisten und dem, welcher dessen Composition aufführt. Nicht, dass beym Vortrag irgend einer Musik ein Chronometer thätig erscheine: nein, es sey blos der Maasstab, dessen der Componist sich bedient, um damit zu bezeichnen, in welchem Tempo er sein Werk aufgeführt wissen will; die Bezeichnung des gehörigen Grades chronometrischer Geschwindigkeit soll am Anfang eines Tonstücks an die Stelle der vagen Ueberschriften, Allegro, Adagio etc., oder wenigstens neben dieselben gesetzt werden, so dass man durch Befragung des Chronometers an jedem Ort und auf ewige Zeiten leicht wissen könne, wie geschwind oder langsam der Componist sein Tonstück ausgeführt haben wollte, was durch die an sich schwankenden und nach Ort und Zeit wandelbaren Ueberschriften, Allegro, Andante, Maestoso etc. nun einmal nur sehr unbestimmt und unzuverlässig geschehen kann.“ (AMZ 16/1814, Sp. 446; vgl. AMZ 15/1813, Sp. 444).

Metronom von Johann Nepomuk Mälzel. Paris 1815.
Metronom von Johann Nepomuk Mälzel. Paris 1815.

Der allgemeine Wunsch nach einem Taktmesser erfüllte sich mit der Erfindung des Metronoms durch Johann Nepomuk Mälzel (1772-1838). Mälzel ließ das Metronom am 15. Dezember 1815 patentieren und in Paris und London in großen Stückzahlen herstellen. In der "Allgemeine[n] Musikalische[n] Zeitung" vom 18. Juni 1817 wurde "Mälzels Metronom" ausführlich vorgestellt (AMZ 19/1817, Sp. 417-422). Zu der von Mälzel entworfenen Temposkala bemerkte der Autor kritisch: „Nun beruhet es auf dem Componisten, ob er die Bewegung seines Stücks durch ganze, halbe, Viertel-, Achtel-Noten etc. bezeichnen will: am rathsamsten wird es jedoch seyn - weil es in der Anwendung am bequemsten ist - Adagio durch Achtel-, Andante durch Viertel-, Allegro durch halbe, und Presto oder Allabreve durch ganze Noten zu bezeichnen“ (ebd. Sp. 420). In der "Allgemeine[n] Musikalische[n] Zeitung" vom 1. Juli 1818 reklamierte der Amsterdamer Dietrich Nikolaus Winkel (1777-1826) die Erfindung des Metronoms allerdings für sich (AMZ 20/1818, Sp. 468-473).

J. N. Hummel: Ausführliche theoretisch-practische Anweisung zum Piano-Forte-Spiel. 1828. S. 440.
J. N. Hummel: Ausführliche theoretisch-practische Anweisung zum Piano-Forte-Spiel. 1828. S. 440.

In den 1820er Jahren und der Zeit danach versahen zahlreiche Komponisten ihre Werke mit Tempoangaben nach der Mälzel-Skala, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Bewegung der Musik nicht den Gesetzen der Mechanik gehorche. Johann Nepomuk Hummel (1778-1837) begrüßte die Einführung des Taktmessers: "Diese Erfindung neuerer Zeit ist eine der nützlichsten im Gebiete der Musik, und erfüllt ihren Zweck vollkommen; nur giebt es noch Viele, die bei der Anwendung des Metronom's irrig meinen, er sei dazu bestimmt, seinem gleichmässigen Gang das ganze Stück hindurch folgen zu müssen, ohne dem Gefühl dabei Freiheit zu lassen" (Hummel 1828, S. 439). "Spieler und Liebhaber erfahren durch ihn das rechte vom Autor bestimmte Tempo, sollen aber keineswegs seinen Schlägen knechtisch folgen, und dadurch an einem zuweilen nöthigen Anhalten oder Vorwärtsgehen gehindert werden" (ebd. S. 440).

Da sich die Tempoangaben der Mälzel-Skala weder auf bestimmte Notenwerte noch auf die Taktarten der Musikstücke bezogen, gaben sie keine eindeutigen Tempoanweisungen. Hummel beseitigte diesen Mangel, indem er eine Übersicht über die Tempoangaben in Verbindung mit Notenwerten und Taktarten erstellte (siehe Abb.). Man kann davon ausgehen, dass Hummels Tempoangaben beispielhaft für die Tempogestaltung der frühromantischen Musik waren.

Betrachtet man die Metronomangaben, die Dionisio Aguado (1784-1849) in seiner "Nuevo Método para Guitarra" (1843) veröffentlichte, so fällt auf, dass sie im Wesentlichen mit den Angaben Hummels übereinstimmen, auch wenn sie sich eher im langsamen Bereich bewegen (Aguado 1843, §§ 282ff.).

Andante

2/4 Takt - Achtel = 84 MM

4/4 Takt - Viertel = 63 MM

 

Allegretto

4/4 Takt - Halbe = 66 MM

 

Allegro

2/4 Takt - Viertel = 63 MM

2/4 Takt - Viertel = 72 MM

2/4 Takt - Halbe = 66 MM

4/4 Takt - Viertel = 104 MM

4/4 Takt - Halbe = 66 MM

Adagio

3/4 Takt - Viertel = 50 MM

 

Allegretto

3/4 Takt - Halbe = 66 MM

 

Allegretto

12/8 Takt - Halbe = 66 MM



3 Romantische Tempi zwischen lyrischer Innerlichkeit und extrovertierter Virtuosität

Mälzels Metronom war auf den ersten Blick das ideale Mittel zur Bestimmung des musikalischen Tempos: Zum einen ließ das mechanische Ticken des Taktmessers keine Temposchwankungen zu, zum anderen waren die metronomischen Geschwindigkeitsangaben eindeutig und präzise. Eine willkürliche Tempowahl war damit von vornherein ausgeschlossen. Für die neue, bürgerliche Musikkultur war das Metronom wie geschaffen: Den freischaffenden Komponisten ermöglichte es eine gewisse Kontrolle über die Aufführung ihrer Werke, und den zahlreichen Laienmusikern bot es eine gute Hilfe beim Üben. Jeder Dilettant konnte mit Hilfe des Metronoms ein Gefühl für Takt und Tempo entwickeln.

Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass das Metronom nicht so recht in die Zeit der beginnenden Romantik passte. Im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich das Musikverständnis und damit auch die Gestaltung des Tempos in der musikalischen Darbietung. Die Musik löste sich von der antiken Affektenlehre und verstand sich zunehmend als Ausdrucksform des individuellen Gefühlslebens. Die Tempogestaltung wurde in der Romantik freier, individueller und flexibler. Schon Beethoven erklärte, obwohl er einige seiner Werke mit Metronomangaben versehen hatte: "Gar kein Metronom! Wer richtiges Gefühl hat, braucht ihn nicht; und wer es nicht hat, dem nützt er doch nichts" (Marx 1863, S. 62).

Nicolò Paganini. Lithografie von R. J. Lane. 1831.
Nicolò Paganini. Lithografie von R. J. Lane. 1831.

Die romantische Tempogestaltung lässt sich in zwei Ausprägungen unterteilen, in eine introvertierte und eine extrovertierte. Das introvertierte Spiel, vielleicht am besten verkörpert durch Franz Schubert (1797-1828), ließ den Klängen Zeit, sich zu entfalten. Die langsamen Tempi wurden etwas mehr als üblich gedehnt. Das Spiel war in sich gekehrt, gefühlvoll, innig, zögernd oder vorsichtig tastend. Das Gegenstück zu Schubert war der exzentrische "Teufelsgeiger" Nicolò Paganini (1782-1840). Seine Stücke waren auf Bravour angelegt, gespickt mit halsbrecherischen Figuren und atemberaubenden Tempopassagen. Paganini verstand es aber auch, sein Publikum mit leisen Tönen zu berühren. Carl Wilhelm Ferdinand Guhr (1787-1848) schrieb über Paganinis Geigenkunst: "Der Vortrag der Cantilenen, so wie seines Adagio's ist hinreissend und entzückend. Er entwickelt hier eine zarte Rührung, eine ergreifende Wehmuth, die nicht leicht ein Auge trocken lässt (...). Vernehmen wir im Adagio mehr das ewig strebende Sehnen, ein Ringen, ein unaussprechliches Verlangen, zeigt uns Paganini in demselben mehr die Wunden, die ein unbeugsames Verhängniss schlägt, waltet in demselben mehr der Geist einer tiefen Wehmuth, so herrscht dagegen in seinem Allegro eine begeisterte Kühnheit, ein keckes Wagen, ein aufloderndes Feuer, ein leidenschaftlicheres Kämpfen und Streben. Man vernimmt Töne, die den Glauben wecken, es walte hier ein gefährlicher, Verderben drohender Geist, der mit jedem Augenblicke die Wetterwolke zu durchbrechen drohe. Im Allegro öffnet uns Paganini die mannigfachsten Quellen seiner Technik" (Guhr 1829, S. 60).  Paganinis Interpretation zielte entweder auf Sentimentalität oder auf größtmögliche Wirkung. Dementsprechend neigte er dazu, getragene Sätze langsamer und schnelle Sätze schneller zu spielen.

Die "Modesucht", schnelle Sätze schneller als üblich zu spielen, gab es schon vor Paganini. So beklagte Friedrich Guthmann in seinem Artikel "Expectorationen über die heutige Musik" die "allzugrosse Geschwindigkeit des Allegro, und überhaupt ... das eingerissene unmäßige Eilen". "Noch muss ich insbesondere das unmässige Eilen in den sogenannten Minuetten der Sinfonieen und im Allegro der Ouvertüren rügen! Gleich einem verzweifelten Walzer eilen die ersten daher, und die zweyten scheinen ordentlich dazu bestimmt zu seyn, durch ihre Geschwindigkeit und durch ihr Getöse dem sich noch schwatzend unterhaltenden Publikum die Spitze bieten wollen" (AMZ 7/1805, Sp. 773-775). Der Wiener Korrespondent der "Allgemeine[n] Musikalische[n] Zeitung" beobachtete eine grundsätzliche Neigung zu extremen Tempi, sowohl bei schnellen als auch bei langsamen Stücken: "Die Sucht, musikal. Werke immer geschwinder zu spielen, nimmt auch hier in Wien immer mehr über Hand, so dass man sich oft einen Spass und auch wol gar ein Verdienst daraus macht, z. B. die Sinfonie, herunter "gestäubt" zu haben. So wurde vor einiger Zeit ein Mozartsches Klavierkonzert gerade noch einmal so geschwind gespielt, als ich es selbst von Mozart vortragen hörte. (...) Nun finden sich aber jetzt auch wieder Virtuosen, die gerade das entgegengesetzte Extrem ergreifen; es sind die, die das sogenannte grosse Spiel haben, (Viotti's Schule) so dass es, wenn das so fort gehet, mit den Tempos in Deutschland dahinkommen wird, wie mit der Orthographie - dass wir gar keine mehr haben, sondern fast alles der Willkühr hingegeben ist. Um auch von diesem übertriebenen Zögern wenigstens Ein Beyspiel anzuführen, nenne ich das von Lamare, der während seines Aufenthalts in Wien das zweyte Stück des zweyten der konzertirenden Mozartschen Quartetten fast noch einmal so langsam nahm, als ich es unter Mozarts Leitung habe spielen hören" (AMZ 9/1807, Sp. 265f.). Ähnlich stellte Gottfried Weber in einem fiktiven "Gespräch zwischen einem Componisten und einem Musik-Director" über den "Taktmesser" fest: "Bekanntlich verstanden die Musiker aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhundert unter Allegro nur ungefähr, was wir jetzt Andante nennen, und so waren alle übrigen Bezeichnungen der Bewegung langsamer zu verstehen, als die der neuern Componisten" (AMZ 15/1813, Sp. 444).

Tatsächlich warnte Leopold Mozart davor, schnelle Tempi übereilt zu spielen: "Vivace heißt lebhaft, und Spiritoso will sagen, daß man mit Verstand und Geist spielen solle, und Animoso ist fast eben dieß. Alle drey Gattungen sind das mittel zwischen dem Geschwinden und Langsamen". "Allegretto, ist etwas langsamer als Allegro, hat gemeiniglich etwas angenehmes, etwas artiges und scherzhaftes, und vieles mit dem Andante gemein. Es muß also artig, tändelend, und scherzhaft vorgetragen werden". "Allegro, welches zwar ein lustiges, doch ein nicht übereiltes Tempo anzeiget; sonderbar wenn es durch Beywörter und Nebenwörter gemässiget wird als da sind: Allegro, ma non tanto, oder non troppo, oder moderato, welches eben sagen will, daß man es nicht übertreiben solle" (Mozart 1756, S. 48f.). Und Carl Philipp Emanuel Bach empfahl, auf die Noten der Stücke zu achten, um bei der Wahl der Tempi nicht in Extreme zu verfallen: "Der Grad der Bewegung läßt sich so wohl nach dem Inhalte des Stückes überhaupt, den man durch gewisse bekannte italiänische Kunstwörter anzuzeigen pflegt, als besonders aus den geschwindesten Noten und Figuren darinnen beurtheilen. Bey dieser Untersuchung wird man sich in den Stand setzen, weder im Allegro übereilend, noch in Adagio zu schläfrig zu werden" (Bach 1753, S. 121).

Was die romantischen Gitarristen betrifft, so beeinflusste Schuberts introvertiertes Klavierspiel vor allem Johann Kaspar Mertz (1806-1856), der 1845 sechs Lieder Schuberts für die Gitarre bearbeitete. Paganinis extrovertiertes Geigenspiel beeinflusste vor allem die italienischen Gitarrenvirtuosen, die begannen, ihre Spieltechnik zur Schau zu stellen. Luigi Legnani (1790-1877) etwa spielte am 18. Dezember 1822 bei einem Konzert im Landständischen Saal in Wien ein Capriccio nur mit dem linken Zeigefinger: "Das Capriccio spielte er einzig und allein mit dem linken Zeigefinger und dieser arbeitete so viel, als sonst gewöhnlich die ganze Hand; sogar ein Triller kam vor, was wirklich sehenswerth war" (AMZ 24/1822, Sp. 797). Legnani war mit Paganini befreundet. Beide gaben 1835 ein gemeinsames Konzert in Genua. Auch Giulio Regondi (1823-1872) konzertierte 1830 mit Paganini in Paris. Für Friedrich Karl Ignatz Zoche-Zochetti (1789/90-nach 1877)Marco Aurelio Zani de Ferranti (1801-1878) und Nikolai Petrovich Makaroff (1810-1890) waren Paganinis Konzerte Schlüsselerlebnisse für ihre eigene musikalische Karriere. 

4 Variable Tempogestaltung

Im 18. Jahrhundert war das Tempo an Takt und Metrum gebunden. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die metrische Umsetzung der Noten als gleichförmiger, mechanischer Vorgang verstanden wurde. Im Gegenteil: Obwohl sich Johann Joachim Quantz bei der Bestimmung des Tempos am Pulsschlag orientierte (Quantz 1752, S. 261), forderte er von einem guten musikalischen Vortrag, dass er "ausdrückend" sei (ebd. S. 107). Dazu gehörte auch die Veränderung des Tempos durch die Vorwegnahme, Verzögerung oder Verlangsamung wichtiger Noten. Deshalb war es für Quantz "ungereimt und unmöglich", "ein ganzes Stück nach dem Pulsschlag" zu messen (ebd. S. 261). Ähnlich lehnte C. P. E. Bach jede Art von Mechanik in der Musik ab: "Es gehört hiezu eine Freyheit, die alles sclavische und maschinenmäßige ausschliesset. Aus der Seele muß man spielen, und nicht wie ein abgerichteter Vogel" (Bach 1787, S. 119). Wenn man ausdrucksvoll und aus der Seele spielen wolle, müsse man, so Bach, vom Grundtempo eines Stückes abweichen: "So kan man doch öfters die schönsten Fehler wider den Tackt mit Fleiß begehen", wobei man als Solist ohne Begleitung "der ganzen Bewegung zuweilen einige Gewalt" antun darf, sobald man aber "mit starcker Begleitung" spielt, "man bloß in seiner Stimme allein wider die Eintheilung des Tackts eine Aenderung vornehmen kan, indem die Hauptbewegung desselben genau gehalten werden muß" (ebd. S. 120).

Die variable Tempogestaltung konnte sich nach Bach auf die musikalische Bewegung eines ganzen Stückes beziehen oder nur auf die Melodiestimme, die sich von der streng im Takt bleibenden Begleitstimme abhob. Daniel Gottlob Türk (1750-1813) fasste die beiden Formen der variablen Tempogestaltung begrifflich zusammen als "Eilen und Zögern" (Accelerando und Ritardando) und "Tempo rubato" (Türk 1789, S. 371.374).

4.1 Das Accelerando und Ritardando

Die erste Form der variablen Tempogestaltung bestand darin, das Tempo an bestimmten Stellen maßvoll zu beschleunigen oder zu verlangsamen, um einem Stück mehr Ausdruck zu verleihen. Friedrich Guthmann diskutierte in seinem Aufsatz „Ueber Abweichung vom Takte“ (1805) die Frage, inwieweit eine Abweichung vom Takt erlaubt sei: „Jede schöne Kunst liebt eine gewisse - zwar nicht regellose, aber auch nicht in die Regel gepresste Freyheit. Diese würde im letztern Falle ganz aufhören. - Nur zu oft opfert man den Zweck dem Mittel auf. Der Takt ist Mittel um unsere Empfindungen desto freyer und besser äussern zu können. Er soll sie aber nicht hemmen. Unsere Empfindung kann - wenn ich so sagen darf - wol überfliessen, aber nicht überströmen - Das Steigen und Fallen derselben ist so allmählig, der rasche oder langsame Flug der Phantasie hängt so sehr von dem geistigen Stoffe, welcher produzirt wird, ab - dass man gewiss nicht im Stande seyn kann, dies alles durch Noten und Worte nur anzudeuten, geschweige denn bestimmt vorzuschreiben“ (AMZ 7/1805, Sp. 348). Er schloss seine Überlegungen ganz im Sinne C. P. E. Bachs: „Im Ganzen genommen muss die Bewegung sich immer gleich bleiben, wenn sie gleich in einzelnen Stellen abweicht“ (AMZ 7/1805, Sp. 349).

Ein anonymer Autor beklagte sich in der "Allgemeinen Musikalischen Zeitung" vom 6. April 1808 über Willkür und Maßlosigkeit bei der Tempogestaltung: "Nun ist aber bekannt, dass der grösste Theil derjenigen Tonkünstler, die sich insbesondere dem Vortrage der Solostimmen widmen, schon seit geraumer Zeit angefangen hat, mit dem Zeitmaasse sehr willkührlich zu verfahren, und dass man immer geneigter wird, das Joch des Taktes abzuschütteln" (AMZ 10/1808, Sp. 438). Der freien Tempogestaltung stand er distanziert gegenüber. Er akzeptierte lediglich die Praxis des Tempo rubato, bei der sich ein Solist gegenüber den Ripienisten gewisse Freiheiten herausnehmen konnte: "Der Vorwand, es gewinne durch Anhalten oder Forteilen im Zeitmaasse der Ausdruck, ist, sehr seltne Fälle abgerechnet, nichts als ein Vorwand, und soll nur den Zuhörern Sand in die Augen werfen, und die Accompagnisten zum Nachgeben nöthigen, damit man, wenn man nicht alle Stimmen in einem und ebendemselben Moment nachgeben, welches in vielen Fällen nicht möglich ist, man den selbst begangenen Fehler wieder [sic] den Takt auf das Accompagnement wälzen könne. Leider erlaubt dieses dem Sänger oder dem Solospieler noch immer die Mode; leider wird dadurch der Vortrag der Ripienstimmen immer mehr herabgewürdigt (...). Braucht es auch gegen diesen Missbrauch Autoritäten? Nun denn: Mozart spielte aufs Haar im Takt, Ph. Em. Bach that es ebenfalls, und Clementi, Romberg und Rode thun's noch! (...) Sey es auch, dass es zuweilen in einer Solostimme einige Stellen gebe, die durch eine etwas vermehrte oder verminderte Geschwindigkeit der Bewegung, nicht blos scheinbar, sondern wirklich, in Ansehung des Ausdrucks gewinnen können: so kann ja dieses wenigstens der Fall bey weitem nicht so oft, und bey weitem nicht so arg seyn, als ein solcher sogenannter pikanter Solospieler von der Taktbewegung abweicht; und ein plötzliches Rucken und Zucken, ein plötzliches Verändern der Bewegung vielleicht um ein Drittheil, wo nicht um die Hälfte, des Maasses, wie man jetzt sogar nicht selten hört, kann und darf nun vollends gar nie u. nirgends geduldet werden" (ebd. Sp. 438f. Anm.).

Gottfried Wilhelm Fink (1783-1846) hingegen warnte in seinem Aufsatz „Ueber Takt, Taktarten und ihr Charakteristisches“ (1809) vor Pedanterie bei der Tempogestaltung: „Nur noch ein paar Worte über das freye, blos nach Gefühlsprincipien, ohne Anzeige des Komponisten, berechnete Anhalten und Eilen des Vortrags in kleinern Sätzen eines Stückes, in einzelnen Takten und auch in einzelnen Takttheilen. Es würde höchst pedantisch seyn, wenn es jemand wagen wollte, dem Spieler diese Freyheit, die, mit Geschmack angebracht, einen herrlichen, hohen Geist in die simpelsten Gedanken legen kann, … rauben wollte“ (AMZ 11/1809, Sp. 229f.).

Offensichtlich herrschte um die Jahrhundertwende Uneinigkeit darüber, inwieweit das Tempo frei gestaltet werden durfte. Damit Temponuancen als Ausdrucksmittel mit Maß und Geschmack eingesetzt werden konnten, ging Türk in seiner "Klavierschule" (1789) ausführlich auf die "Stellen" ein, "wo das Eilen oder Zögern statt finden" kann.

1. Accelerando: "In Tonstücken, deren Charakter Heftigkeit, Zorn, Muth, Raserey u. dgl. ist, kann man die stärksten Stellen etwas beschleunigt (accelerando) vortragen. Auch einzelne Gedanken, welche verstärkt (gemeinglich höher) wiederholt werden, erfordern gewissermaßen, daß man sie auch in Ansehung der Geschwindigkeit zunehmen lasse. Wenn zuweilen sanfte Empfindungen durch eine lebhafte Stelle unterbrochen werden, so kann man die Letztere etwas eilend spielen. Auch bey einem Gedanken, durch welchen unerwartet ein heftiger Affekt erregt werden soll, findet das Eilen statt."

D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 372.
D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 372.

2. Ritardando: "Bey außerordentlich zärtlichen, schmachtenden, traurigen Stellen, worin die Empfindung gleichsam auf Einen Punkt zusammen gedrängt ist, kann die Wirkung durch ein zunehmendes Zögern (Anhalten, tardando) ungemein verstärkt werden. Auch bey den Tönen vor gewissen Fermaten nimmt man die Bewegung nach und nach ein wenig langsamer, gleich als würden die Kräfte allmählich erschöpft. Die Stellen, welche gegen das Ende eines Tonstücks (oder Theiles) mit diminuendodiluendosmorzando u. dgl. bezeichnet sind, können ebenfalls ein wenig verweilend gespielt werden" (Türk 1789, S. 371). "Eine zärtlich rührende Stelle zwischen zwey lebhaften, feurigen Gedanken, ... kann etwas zögernd ausgeführt werden; nur nimmt man in diesem Falle die Bewegung nicht nach und nach, sondern sogleich ein wenig (aber nur ein wenig) langsamer." "Zu den Stellen, welche nicht streng nach dem Takte, sondern etwas verweilend vorgetragen werden könnten, gehören, außer den durch kleine Nötchen angezeigten oder Senza tempo &c. überschriebenen Verzierungen und Uebergängen, auch ähnliche Einleitungen in Hauptsätze a), wenn gleich der Komponist die gewöhnliche Schreibart beibehalten hat. Eben so kann ein matter Gedanke bey der Wiederholung verweilend gespielt werden b)" (Türk 1789, S. 372).

Während Türk die Musik der Wiener Klassik im Auge hatte, beschrieb Carl Czerny (1791-1857) die in der Romantik übliche Praxis der Tempogestaltung. Czerny maß der variablen Tempogestaltung eine wesentlich größere Bedeutung bei als Türk. Für ihn waren die "Veränderungen des vorgeschriebenen Tempo’s durch das rallentando und accelerando" das "beinahe wichtigste Mittel des Vortrags" (Czerny 1839 III, S. 24). Er hielt zwar grundsätzlich an der klassischen Tempobestimmung fest, forderte aber zugleich, dass feine Temponuancen innerhalb der musikalischen Phrasen den Vortrag ausdrucksvoll gliedern sollten: "Nun muss zwar allerdings jedes Tonstück in dem, vom Autor vorgeschriebenen und vom Spieler gleich Anfangs festgesetzten Tempo, so wie auch überhaupt streng im Takte und in niemalsschwankender Bewegung bis an's Ende vorgetragen werden. Aber diesem unbeschadet, kommen sehr oft, fast in jeder Zeile, einzelne Noten oder Stellen vor, wo ein kleines, oft kaum bemerkbares Zurückhalten oder Beschleunigen nothwendig ist, um den Vortrag zu verschönern und das Interesse zu vermehren" (ebd. S. 24). 

Um willkürlichen Missbrauch und Übertreibungen zu vermeiden, stellte Czerny Regeln auf, an welchen Stellen das Tempo verlangsamt werden sollte: "Das Ritardando wird in der Regel weit häufiger als das Accelerando angewendet, weil es den Charakter eines Satzes weniger entstellen kann, als das zu öftere Beschleunigen des Zeitmasses.

Am schicklichsten wird retardirt:

  1. In jenen Stellen, welche die Rückkehr in das Hauptthema bilden.
  2. In jenen Noten, welche zu einem einzelnen Theilchen eines Gesangs führen.
  3. Bei jenen gehaltenen Noten, welche mit besonderem Nachdruck angeschlagen werden müssen und nach welchen kurze Noten folgen.
  4. Bei dem Übergang in ein anderes Zeitmass, oder in einen, vom Vorigen ganz verschiedenen Satz.
  5. Unmittelbar vor einer Haltung.
  6. Beim Diminuendo einer früher sehr lebhaften Stelle, so wie bei brillanten Passagen, wenn plötzlich ein piano und delicat vorzutragender Lauf eintritt.
  7. Bei Verzierungen, welche aus sehr vielen geschwinden Noten bestehen, die man nicht in das rechte Zeitmass hineinzwängen könnte.
  8. Bisweilen auch in dem starken crescendo einer besonders markirten Stelle, die zu einem bedeutenden Satze oder zum Schluss führt.
  9. Bei sehr launigen, capriziösen, und fantastischen Sätzen, um deren Charakter desto mehr zu heben.
  10. Endlich fast stets da, wo der Tonsetzer ein espressivo gesetzt hat; so wie
  11. Das Ende eines jeden langen Trillers, welcher eine Haltung und Cadenz bildet, und diminuendo ist, wie auch jede sanfte Cadenz überhaupt" (ebd. S. 25f.).

In der Tempogestaltung folgten die Gitarristen dem musikalischen Zeitgeschmack. Zahlreiche Werke für Gitarre enthalten agogische Anweisungen, so zum Beispiel die ersten Werke, die Giuliani 1807 veröffentlichte. Die Kunst der Tempoveränderung wurde wahrscheinlich direkt im Gitarrenunterricht vermittelt. Denn in den Gitarrenschulen wurde die Praxis des Ritardierens und der Beschleunigung nicht näher behandelt. Eine Ausnahme bildete Aguados "Nuevo Método para Guitarra" (1843). Hier wurde zumindest angedeutet, dass Temponuancierungen zum expressiven Gitarrenspiel gehören: "Wenn man allein spielt, erlaubt der Ausdruck in bestimmten kurzen Passagen eine leichte Veränderung des Zeitmaßes, mal durch Beschleunigung, mal durch Verlangsamung; in diesem Fall täuscht man für einen Moment sein Fehlen vor, um ihm dann mit der gleichen Genauigkeit wie zuvor zu folgen" (Aguado 1843, § 296 übers.). Zugleich wurde aber auch auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich beim expressiven Gitarrenspiel an konkreten Vorbildern zu orientieren: "Schließlich sollte der Gitarrist bei verdienten Lehrern, gleichgültig auf welchem Instrument sie ihre Gefühle ausdrücken, nach Vorbildern für den Ausdruck suchen; er sollte ihnen mit großer Aufmerksamkeit zuhören und sich bemühen, sie nachzuahmen, bis es ihm gelingt, seinen eigenen Geschmack und Stil zu entwickeln" (ebd. § 297 übers.).

4.2 Das Tempo rubato

Wenn man heute von Tempo rubato ("geraubtes Zeitmaß") spricht, meint man in der Regel eine leichte Beschleunigung und anschließende Verlangsamung des Tempos eines Stückes nach dem Ermessen des Solisten. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass Rubato auf Accelerando und Ritardando beruht. Diese Vorstellung ist im Hinblick auf die in der Zeit um 1800 praktizierte Rubato-Technik unangebracht und falsch. Zur Zeit der Wiener Klassik war das Tempo rubato an Takt und Metrum gebunden. Daniel Gottlob Türk und Heinrich Christoph Koch unterscheiden "verschiedene Gattungen des Tempo rubato", auf die im folgenden eingegangen wird (AMZ 10/1808, Sp. 513).

4.2.1 als synkopische Verschiebung der Melodiestimme

Wolfgang Amadeus Mozart. Gemälde von Unbekannt. Salzburg 1777.
Wolfgang Amadeus Mozart. Gemälde von Unbekannt. Salzburg 1777.

Eine Art des Rubato betraf nur die Melodiestimme, die sich durch die Verlängerung oder Verkürzung einzelner Notenwerte mit anschließendem Ausgleich von der streng im Takt spielenden Begleitstimme abhob. Diese Form der Tempogestaltung, das Vorauseilen oder Zurückbleiben der Melodiestimme gegenüber dem Takt, wurde zunächst in der Vokalkunst entwickelt (vgl. Agricola 1757, S. 219f.) und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf die Instrumentalmusik übertragen.

Leopold Mozart beschrieb diese Variante des Tempo rubato in seinem "Versuch einer gründlichen Violinschule" (1756): "Allein wenn man einem wahren Virtuosen ... accompagniret; dann muß man sich durch das Verziehen, oder Vorausnehmen der Noten, welches er alles sehr geschickt und rührend anzubringen weiß, weder zum Zaudern noch zum Eilen verleiten lassen, sondern allemal in gleicher Art der der Bewegung fortspielen" (Mozart 1756, S. 263). Sein Sohn Wolfgang Amadeus wandte das Tempo rubato ausgiebig an: "Daß ich immer accurat im tact bleybe. über das verwundern sie sich alle. Das tempo rubato in einem Adagio, daß die lincke hand nichts darum weiß, können sie gar nicht begreifen. bey ihnen giebt die lincke hand nach" (an den Vater, 24.10.1777). Er verstand das Tempo rubato als eine Form des "expressive[n]" Spiels in langsamen Sätzen (ebd.).

D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 374.
D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 374.

Daniel Gottlob Türk bezeichnete diese Form der Tempogestaltung als "Tonverziehen": "Gemeiniglich versteht man darunter eine Art von Verkürzung und Verlängerung der Noten, oder ein Verrücken (Versetzen) derselben. Es wird nämlich Einer Note etwas von ihrer Dauer entzogen, (gestohlen,) und dafür einer Andern so viel mehr gegeben, wie in den nachstehenden Beyspielen b) und c). Bey a) sind die simpeln Noten, bey b) ist das Tempo rubato durch eine Vorausnahme (anticipatio) und bey c) durch eine Verzögerung (retardatio) angebracht. Man sieht hieraus, daß durch diesen Vortrag das Zeitmaß oder vielmehr der Takt im Ganzen nicht verrücket wird. Folglich ist der gewöhnliche, aber etwas zweydeutige deutsche Ausdruck: verrücktes Zeitmaß, nicht passend; denn die Grundstimme geht ihren Gang taktmäßig (unverrückt) weiter, nur die Noten der Melodie werden gleichsam aus der ihnen zukommenden Stelle verschoben. Daher wäre vielleicht der Ausdruck: das Versetzen (oder Verziehen) der Noten oder Taktglieder sc. richtiger" (Türk 1789, S. 374f.).

Die Bezeichnung "verrücktes Zeitmaß" hielt Türk für unpassend, da das Tempo rubato nicht das Zeitmaß verändere, sondern die Melodiestimme synkopisch gegen die Bassstimme verschiebe. Für die synkopische Verschiebung einer Stimme gegen eine andere ohne Änderung des Tempos hielt er den Begriff "Tonverziehen" für treffender: "Dieses Tonverziehen, wie es sonst auch genannt wird, muß sehr behutsam angewandt werden, weil leicht Fehler in der Harmonie dadurch entstehen können" (ebd. S. 375). 

Heinrich Christoph Koch bezeichnete diese Vortragsweise in seinem Artikel "Ueber den technischen Ausdruck: Tempo rubato" (1808) als "veraltet": "Ehedem, und besonders in der ehemaligen Berliner Schule, verband man mit dem Ausdrucke Tempo rubato einen Nebenbegriff, und verstand darunter diejenige Vortragsart dieser oder jener cantabeln Stelle eine Solostimme, bey welcher der Spieler mit Vorsatz von der angenommenen Bewegung des Zeitmaasses und von der gewöhnlichen Eintheilung der Notengattungen abwich, und die melodischen Tonfolgen gleichsam ohne alle bestimmte Zeiteintheilung vortrug, während dabey die Begleitung auf das strengste im Zeitmaasse fortspielte" (AMZ 10/1808, Sp. 518). "Ob es nun gleich anjetzt noch hin und wieder taktfeste Virtuosen giebt, die sich zuweilen einer ähnlichen Vortragsart mit Vortheil bedienen, und sich (wohl zu merken!) ganz unvermerkt wieder mit der in der Taktbewegung richtig fortgehenden Begleitung zu vereinigen wissen: so geschieht es dennoch gewöhnlich nur mit einer weit weniger merklichen Abweichung von dem Zeitmaasse, als ehedem, so dass man behaupten kann, jene Art dieses Vortrags sey heut zu Tage ... veraltet, und unter den vorzüglichen Virtuosen nicht mehr gebräuchlich" (ebd.; vgl. Koch 1802, Sp. 1503). Zur Berliner Schule zählte er die am Hofe Friedrichs des Großen tätigen Komponisten: C. P. E. Bach, Johann Joachim Quantz und Franz Benda.

4.2.2 als Umkehrung der metrischen Gewichtsverhältnisse

D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 375.
D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 375.

Neben dieser "Gattung des Tempo rubato" gab es eine weitere, die nicht die Stimmführung, sondern die metrische Akzentuierung betraf. Türk führte dazu aus: "Außer der angezeigten Bedeutung des Tempo rubato versteht man unter diesem Ausdrucke zuweilen auch nur eine besondere Art des Vortrages, wenn nämlich der Accent, welcher den guten Noten zukommt, auf die schlechten verlegt wird, oder mit andern Worten: wenn man die Töne auf dem schlechten Takttheile sc. stärker vorträgt, als diejenigen, welche in die gute Zeit des Taktes (oder einer Note) fallen, wie in diesen Beispielen" (Türk 1789, S. 375).

AMZ 10/1808. Sp. 515.
AMZ 10/1808. Sp. 515.

In dieser Verrückung des Taktgewichts bestand nach Koch die eigentliche Funktion des Tempo rubato: "Man verstehet demnach unter dem technischen Ausdrucke Tempo rubato eine mehrmals unmittelbar nach einander folgende Verrückung des Taktgewichts" (AMZ 10/1808, Sp. 514). Koch unterschied drei Arten der Verrückung des Taktgewichts und dementsprechend "drey besondere Gattungen des Tempo rubato" (ebd. Sp. 515).

Die erste Methode, die Verschiebung des Akzents von einem metrisch schweren auf einen metrisch leichten Taktteil, wurde von Türk beschrieben: "1) wenn bey einer Folge von (mehrentheils gleichartigen) Noten die im Anschlage stehenden schwach, die im Nachschlage stehenden hingegen stark intonirt werden, so dass dadurch das Taktgewicht auf die unaccentuirten Noten übertragen wird. Hierzu gehört auch der Fall, in welchem vermittelst einer in allen vorhandenen Stimmen auf das gute Taktglied fallenden Pause der Accent auf den Nachschlag verdrängt wird" (ebd.; vgl. Koch 1802, Sp. 1502f.). 

4.2.3 als zeitlich versetzte Wiederholung eines Themas

AMZ 10/1808. Sp. 516.
AMZ 10/1808. Sp. 516.

Die zweite Methode bestand in der zeitversetzten Wiederholung eines musikalischen Themas in verschiedenen Stimmen. Dieses Kompositionsprinzip wurde in der Fuge angewandt: "2) wenn man einen melodischen Satz dergestalt nachahmt, dass ihn die nachahmende Stimme in dem entgegengesetzten Takttheile oder Taktgliede vorträgt" (ebd. Sp. 516). "Dieses Processes bedient man sich eigentlich nur in der Fuge, oder in einem der Fuge ähnlichen Tonstücke" (ebd. Sp. 517). 

4.2.4 als Verschiebung des Taktgewichts durch Mischung von Taktarten

AMZ 10/1808. Sp. 517.
AMZ 10/1808. Sp. 517.

Die dritte Methode, die Vermischung zweier Taktarten, war von Joseph Haydn und Carl Ditters von Dittersdorf entwickelt worden: "3) wenn ein melodischer Theil, welcher der Beschaffenheit seiner grammatischen Accente zu Folge in die gerade Taktart gehört, wie z. B. der Satz bey a, in einer ungeraden Taktart, wie bey b, gebraucht wird" (ebd. Sp. 517).

AMZ 10/1808. Sp. 517.
AMZ 10/1808. Sp. 517.

"... oder umgekehrt, wenn man einen melodischen Theil, der eigentlich der ungeraden Taktart eigen ist, wie der Satz bey c, in einer geraden Taktart anwendet, wie bey d" (ebd.).

"In diesem Falle entstehet die unmittelbare Folge der Verrückung des Taktgewichts aus der Vermischung der geraden und ungeraden Taktart, und diese Gattung der Rückung ist nicht allein diejenige, die man im engsten Sinne des Wortes mit Tempo rubato bezeichnet, weil der melodische Theil, der diese Rückungen veranlasst, aus einer entgegengesetzten Taktart entwendet ist, sondern sie ist auch diejenige, bey welcher die Verrückung des Taktgewichts am schärfsten auf unser Gefühl wirkt, und die seither in den Tonstücken oft ... gebraucht worden ist" (ebd.).

4.2.5 Das Rubato in der Romantik

In der Frühromantik löste sich das Tempo immer mehr von Takt und Metrum. Die Tempogestaltung wurde freier, individueller und flexibler. Gerade das von Koch als "veraltet" abgewertete melodische Rubato erfuhr in der Romantik eine deutliche Aufwertung.

Die variable Tempogestaltung betraf zum einen das Solospiel im Gegensatz zur Orchesterbegleitung. Louis Spohr (1784-1859) meinte dazu: "Die Eintheilung der Taktglieder nach ihrem Zeitwerth, muss beym Orchesterspiel die allerstrengste seyn, weil sonst kein genaues Zusammentreffen der Spieler möglich wäre. Alles Verweilen auf einzelnen oder mehreren Tönen, (das Tempo rubato,) welches beym Solospiel oft von so grosser Wirkung ist, darf also hier nicht statt finden" (Spohr 1832, S. 248). Lediglich kleinere Temponuancen waren den Orchesterspielern erlaubt, während der Solist in der Tempogestaltung größere Freiheiten hatte: "Der Begleitende hüte sich, den Solospieler im Tempo weder zu treiben, noch zurückzuhalten, doch folge er ihm sogleich, wenn dieser sich kleine Abweichungen vom Zeitmaass erlauben sollte. Hierunter ist jedoch das Tempo rubato des Solospielers nicht verstanden, bey welchem die Begleitung ihren ruhigen, abgemessenen Gang fortgehen muss" (ebd. S. 249). 

Frederic Chopin. Aquarell von M. Wodzinska. 1836.
Frederic Chopin. Aquarell von M. Wodzinska. 1836.

Zum anderen wurde das Rubato im begleiteten Melodiespiel eingesetzt. Diese Form des Rubato wurde besonders von dem Pianisten Frédéric Chopin (1810-1849) gepflegt. Er spielte die Melodie leicht verzögert oder den Takt vorwegnehmend, während die Begleitung der linken Hand im Takt weiterspielte.

Ignaz Moscheles schrieb über Chopins Rubato-Spiel: "Er spielte mir auf meine Bitten vor, und jetzt erst verstehe ich seine Musik, erkläre mir auch die Schwärmerei der Damenwelt. Sein ad libitum-Spielen, das bei den Interpreten seiner Musik in Tactlosigkeit ausartet, ist bei ihm nur die liebenswürdigste Originalität des Vortrags; die dilettantisch harten Modulationen, über die ich nicht hinwegkomme, wenn ich seine Sachen spiele, choquiren mich nicht mehr, weil er mit seinen zarten Fingern elfenartig leicht darüber hingleitet; sein Piano ist so hingehaucht, daß er keines kräftigen Forte bedarf, um die gewünschten Contraste hervorzubringen; so vermisst man nicht die orchesterartigen Effecte, welche die deutsche Schule von einem Clavierspieler verlangt, sondern lässt sich hinreissen, wie von einem Sänger, der wenig bekümmert um die Begleitung ganz seinem Gefühl folgt; genug, er ist ein Unicum in der Clavierspielerwelt" (Moscheles 1873, S. 39).

Der Opernsänger Manuel Garcia (1805-1906) gab in seiner Gesangsschule einen Überblick über den Übergang von der klassischen zur romantischen Tempogestaltung: "Die Compositionen von Haydn, Mozart, Cimarosa, Rossini u. a. verlangen in Hinsicht der rhythmischen Bewegung eine vollkommene Genauigkeit und jede den Geltungen gegebene Veränderung darf nur, ohne die Bewegung des Taktes zu verändern, aus der Anwendung des tempo rubato hervorgehen" (Garcia 1847, S. 36). "Die Musik von Donizetti und besonders die von Bellini enthält eine grosse Anzahl von Passagen, welche, ohne mit rallentando oder accelerando bezeichnet zu sein, doch deren Anwendung vertragen" (ebd. S. 37 Anm.). "Die augenblickliche Verlängerung eines oder mehrerer Töne zum Nachtheil der anderen nennt man das verschobene Zeitmaas. (...) Um die Wirkung des tempo rubato bei dem Gesange hervortreten zu lassen muss das Zeitmaas der Begleitung mit Bestimmtheit festgehalten werden. Der Sänger welchem es unter dieser Bedingung gestattet ist die theilweisen Geltungen zu vergrössern oder zu vermindern kann hiermit gewissen Sätzen ein ganz neues Colorit verleihen. Die accelerando und rallentando erfordern, dass die Begleitung und der Gesang miteinander übereinstimmend die Bewegung verzögern oder beeilen; das tempo rubato dagegen gestattet diese Freiheit nur dem Sänger allein" (ebd. S. 38).

Aus Garcias Darstellung wird deutlich, dass in der romantischen Musik die beiden Ausdrucksmittel Tempo rubato sowie Accelerando und Ritardando zunehmend Verwendung fanden. Während Garcia klar zwischen den beiden Formen der Tempoveränderung unterschied, wurde der Begriff "rubato" im allgemeinen Sprachgebrauch eher unscharf verwendet. Mit "rubato" konnte sowohl das "Verziehen" der Melodietöne gegenüber der Begleitung als auch eine generelle Beschleunigung oder Verlangsamung des Tempos gemeint sein. So beklagte sich Johann Nepomuk Hummel über "ein, bis zum Überdruss oft angebrachtes, willkührliches Dehnen (tempo rubato)" beim Klavierspiel (Hummel 1830, S. 426). Und der Rezensent eines Konzerts, das Johann Kaspar Mertz am 28. März 1843 im Wiener Musikvereinssaal gab, bemängelte: "... er leistet wirklich Ausgezeichnetes auf seinem Instrumente. Er besitzt eine große Geläufigkeit nebst schönem Vortrag, und nur ein zu häufiges Tempo rubato und ein übermäßiges Ausschmücken seiner Themen mit Beigaben aller Art wäre ihm zum Vorwurfe zu machen" (AWMZ 3 (1843), S. 162).