Das Musikverständnis

War das Notenmaterial die materielle Grundlage der musikalischen Interpretation, so bildete das Musikverständnis der Zeit die ideelle Grundlage. Musikgeschichtlich fällt die erste Blütezeit der Gitarre in eine Übergangszeit, in der die musikästhetischen Ideale der Wiener Klassik von denen der Romantik abgelöst wurden. Die Jahrhundertwende markiert den Bruch zwischen altem und neuem Musikverständnis. Musik vor 1800 wurde im Wesentlichen als Klangrede verstanden, Musik nach 1800 als Stimmungsmalerei (vgl. Harnoncourt 1982, S. 48). Das bedeutet nicht, dass sich die Musik um 1800 schlagartig veränderte und romantisch wurde. Vielmehr wurde in dieser Zeit auf dem Boden der musikalischen Klassik der Samen gesät, der später als Epoche der Romantik aufgehen sollte.

Im Folgenden soll der Wandel des Musikverständnisses von der Klassik zur Romantik nachgezeichnet und seine Bedeutung für die Interpretation klassisch-frühromantischer Gitarrenmusik herausgearbeitet werden.

1 Die Musik als Klangrede

Johann Mattheson. Gravur von Joh.-Jakob Haid. 1746.
Johann Mattheson. Gravur von Joh.-Jakob Haid. 1746.

Im 18. Jahrhundert orientierte sich die Instrumentalmusik an der Sprache, genauer an der Affektenlehre der antiken Rhetorik. Man glaubte, dass die Musik ebenso wie die Sprache ihren Ursprung in den Regungen des menschlichen Gemüts habe. Sie wurde als Gefühlssprache mit eigener Grammatik und Logik verstanden.

In diesem Sinne definierte Johann Mattheson (1681-1764) in seiner musiktheoretischen Schrift "Der vollkommene Capellmeister" (1739) die Musik als Klangrede: "Weil nun die Instrumental-Music nichtes anders ist, als eine Ton-Sprache oder Klang-Rede, so muß sie ihre eigentliche Absicht allemahl auf eine gewisse Gemüths-Bewegung richten" (Mattheson 1739, S. 82). Er stellte den Kompositionsprozess in Analogie zur antiken Rhetorik. Der Komponist müsse mit seinem Werk wie ein Redner an die Gefühle und Leidenschaften der Zuhörer appellieren: "Wird er aber auf eine edlere Art gerühret, und will auch andre mit der Harmonie rühren, so muß er wahrhafftig alle Neigungen des Herzens, durch blosse ausgesuchte Klänge und deren geschickte Zusammenfügung, ohne Worte dergestalt auszudrucken wissen, daß der Zuhörer daraus, als ob es eine wirckliche Rede wäre, den Trieb, den Sinn, die Meinung und den Nachdruck, mit allen dazu gehörigen Ein- und Abschnitten, völlig begreiffen und deutlich verstehen möge" (ebd. S. 208).

Johann Joachim Quantz. Kupferstich von Joh. D. Schleuen. 1767.
Johann Joachim Quantz. Kupferstich von Joh. D. Schleuen. 1767.

Johann Joachim Quantz (1697-1773) folgte in seinem "Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen" (1752) Matthesons Verständnis von Musik als "künstliche Sprache, wodurch man seine musikalischen Gedanken dem Zuhörer bekannt machen will" (Quantz 1752, S. 102). Er betonte, dass sich nicht nur der Schaffensprozess, sondern auch die musikalische Darbietung an der Redekunst orientieren müsse. Denn die "gute Wirkung einer Musik hängt fast eben so viel von den Ausführern, als von dem Componisten selbst ab" (ebd. S. 101). "Der musikalische Vortrag kann mit dem Vortrage eines Redners verglichen werden. Ein Redner und ein Musikus haben sowohl in Ansehung der Ausarbeitung der vorzutragenden Sachen, als des Vortrages selbst, einerley Absicht zum Grunde, nämlich: sich der Herzen zu bemeistern, die Leidenschaften zu erregen oder zu stillen, und die Zuhörer bald in diesen, bald in jenen Affect zu versetzen" (ebd. S. 100).

Ein Vortrag, der die Zuhörer emotional berühren soll, muss nach Quantz "deutlich" und "ausdrückend" sein (ebd. S. 104.107) und den Affektgehalt einer Komposition angemessen zum Ausdruck bringen. Quantz forderte daher vom ausführenden Musiker, die Strukturen einer Komposition - Tonarten, Intervalle, Dissonanzen, Tempi - auf ihre Affektwirkung hin zu untersuchen (ebd. S. 108). Dann solle er versuchen, "sich selbst in die Haupt- und Nebenleidenschaften, die er ausdrücken soll, zu versetzen" (ebd. S. 107). Wenn ihm dies gelinge, so versprach Quantz, werde sein Vortrag "allezeit rührend sein" (ebd. S. 109; vgl. Bach 1753, S. 122; Mozart 1756, S. 256; Türk 1789, S. 347).

Johann Nikolaus Forkel. Stich von H. Schwenterley. 1790.
Johann Nikolaus Forkel. Stich von H. Schwenterley. 1790.

An Matthesons Konzept der Klangrede hielt man bis zum Ende des 18. Jahrhundert fest. So erklärte der Musikhistoriker Johann Nikolaus Forkel (1749-1818) in seiner "Allgemeinen Geschichte der Musik" (1788-1801) die Musik in Analogie zur Sprache: "Musik ist in ihrer Entstehung, eben so wie die Sprache, nichts als Tonleidenschaftlicher Ausdruck eines Gefühls". Sie ist die "vollkommene Sprache des Herzens" (Forkel 1788, S. 2). "So wie nun in der Sprache zur vollständigen Bezeichnung einer Sache, mehrere Worte, von verschiedenen Bedeutungen erforderlich sind, wodurch die Eigenschaften und die jedesmalige Beziehung, in der sie uns eben erscheint, kenntlich gemacht werden können, eben so müssen auch zur vollständigen Bezeichnung einer Empfindung mehrere Töne von verschiedener innerer Bedeutung gebraucht werden" (ebd. S.9). "Diese mannichfaltigen Abänderungen oder Ableitungen aus dem Vorrathe einzelner Töne oder Tonreihen, verschaffen uns die Menge von musikalischen Worten, so wie die Sprache die Menge ihrer Ausdrücke durch Ableitungen aus den ursprünglichen einfachen Sprachlauten erhält" (ebd. S.9). "Aus allem dem, was bisher gesagt worden ist, wird nunmehr der Leser leicht den Schluß machen können, daß man sich unter dem Worte Musik eine allgemeine Sprache der Empfindungen zu denken habe, deren Umfang eben so groß ist und seyn kann, als der Umfang einer ausgebildeten Ideen-Sprache. So wie nun in der Ideensprache Reichthum an Ausdrücken für alle möglichen Gedanken mit ihren Beziehungen, Richtigkeit und Ordnung in der Verbindung dieser Ausdrücke, und die Möglichkeit, die sämmtlichen Ausdrücke, nach allen den verschiedenen Zwecken und Absichten, die ein Redender damit verbinden kann, zu biegen und zu gebrauchen, Merkmale ihrer höchsten Vollkommenheit sind; so müssen auch in der Tonsprache 1) Reichthum an Combinationen der Töne, 2) Richtigkeit und Ordnung in den Verbindungen derselben, und 3) gewisser Endzweck, die drey Hauptmerkmale einer wahren, guten und ächten Musik seyn." (ebd. S. 19).

Daniel Gottlob Türk. Stich ca. 1770.
Daniel Gottlob Türk. Stich ca. 1770.

Auch Daniel Gottlob Türk (1750-1813) sah das wesentliche Merkmal eines guten Vortrags darin, den Affektgehalt einer Komposition adäquat zum Ausdruck zu bringen. In seiner "Clavierschule" (1789) stellte er heraus: "Wer ein Tonstück so vorträgt, daß der darin liegende Affekt (Charakter sc.) auch bey jeder einzelnen Stelle auf das Genaueste ausgedruckt (fühlbar gemacht) wird, daß also die Töne gleichsam zur Sprache der Empfindung werden, von dem sagt man, er habe einen guten Vortrag" (Türk 1789, S. 332). Zu einem guten Vortrag gehörten nach Türk "Deutlichkeit in der Ausführung", "Ausdruck des herrschenden Charakters" und "richtiges Gefühl für alle in der Musik auszudruckende Empfindungen und Leidenschaften" (ebd. S. 333).

Das Konzept der Klangrede blieb während der Epoche der Wiener Klassik (1760-1825) das leitende Paradigma. In der nachnapoleonischen Zeit wurde es jedoch allmählich von einem neuen Paradigma abgelöst.

2 Die Musik als Stimmungsmalerei

Ludwig Tieck. Meyers Konversationslexikon. 1906.
Ludwig Tieck. Meyers Konversationslexikon. 1906.

Um 1800 vollzog sich in der Musikästhetik ein Paradigmenwechsel. Die Musik löste sich von der Affektenlehre der antiken Rhetorik und verstand sich zunehmend als Ausdrucksform des individuellen Gefühlslebens.

Zu den Begründern der romantischen Musikästhetik zählen die Schriftsteller Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773-1798) und Ludwig Tieck (1773-1853). Sie verstanden die Musik nicht mehr als Vertonung typisierter Affekte, sondern als Artikulation des reinen, formlosen Gefühlslebens. In den von Tieck herausgegebenen "Phantasien über die Kunst" (1799) verdeutlicht Wackenroder sein Verständnis der Tonkunst anhand der Metapher des fließenden Stromes: "Keine menschliche Kunst vermag das Fließen eines mannigfaltigen Stroms, nach allen den tausend einzelnen, glatten und bergigten, stürzenden und schäumenden Wellen, mit Worten für's Auge hinzuzeichnen,- die Sprache kann die Veränderungen nur dürftig zählen und nennen, nicht die an einanderhängenden Verwandlungen der Tropfen uns sichtbar vorbilden. Und eben so ist es mit dem geheimnißvollen Strome in den Tiefen des menschlichen Gemüthes beschaffen. Die Sprache zählt und nennt und beschreibt seine Verwandlungen, in fremdem Stoff; - die Tonkunst strömt ihn uns selber vor" (Wackenroder 1799, S. 193f.).

Es war die Einsicht in die Unzulänglichkeit der Wortsprache und in den Reichtum des individuellen Gefühlslebens, die Wackenroder zur Entwicklung einer neuen musikalischen Ästhetik führte. Das Gefühlsleben war für ihn nichts, was sich rational und sprachlich fassen ließe. Es war für ihn vielmehr etwas Unsagbares, Immaterielles, Atmosphärisches. Nur die unbegriffliche Musik war für ihn in der Lage, die vielfältig nuancierten Gefühle und Stimmungen auszudrücken und zum Klingen zu bringen. Sie war gewissermaßen eine Sprache über der Sprache: "Die Musik aber halte ich für die wunderbarste dieser Erfindungen, weil sie menschliche Gefühle auf eine übermenschliche Art schildert, weil sie uns alle Bewegungen unsers Gemüths unkörperlich, in goldne Wolken luftiger Harmonieen eingekleidet, über unserm Haupte zeigt, - weil sie eine Sprache redet, die wir im ordentlichen Leben nicht kennen, die wir gelernt haben, wir wissen nicht wo? und wie? und die man allein für die Sprache der Engel halten möchte" (ebd. S. 156).

E.T.A. Hoffmann. Selbstporträt. ca. 1800.
E.T.A. Hoffmann. Selbstporträt. ca. 1800.

Während Tieck und Wackenroder sich in literarischer Form über die Musik äußerten, nahm der Schriftsteller, Musikkritiker und Komponist E.T.A. Hoffmann (1776-1822) in seinen musiktheoretischen Schriften und Rezensionen aktiv am ästhetischen Diskurs seiner Zeit teil. In seiner 1810 erschienenen Rezension von Ludwig van Beethovens Fünfter Symphonie griff er Wackenroders Unsagbarkeitstopos auf, um mit der Musiktradition des 18. Jahrhunderts abzurechnen: "Die Musik schliesst dem Menschen ein unbekanntes Reich auf; eine Welt, die nichts gemein hat mit der äussern Sinnenwelt, die ihn umgiebt, und in der er alle durch Begriffe bestimmbaren Gefühle zurücklässt, um sich dem Unaussprechlichen hinzugeben. Wie wenig erkannten die Instrumental-Componisten dies eigenthümliche Wesen der Musik, welche versuchten, jene bestimmbaren Empfindungen ... darzustellen, und so die der Plastik geradezu entgegengesetzte Kunst plastisch zu behandeln!" (AMZ 12/1810, Sp. 631). Als Hauptvertreter des neuen, romantischen Musikverständnisses stellte er Haydn, Mozart und vor allem Beethoven dar. Dass E.T.A. Hoffmann ausgerechnet die drei Großen der Wiener Klassik als Romantiker vorstellte, lag daran, dass die Instrumentalmusik durch Haydn, Mozart und Beethoven eine Aufwertung zur autonomen Kunst erfahren hatte. Beethoven hatte zudem die klassische Formensprache an ihre Grenzen geführt und die Romantik vorbereitet.

E.T.A. Hoffmann erkannte als erster das romantische Potenzial in Beethovens Kompositionen. Er zeigte den romantischen Charakter von Beethovens Fünfter Symphonie jedoch nicht durch eine nüchterne Werkanalyse auf. Vielmehr zeichnete er ihn in romantischer Manier nach, indem er "alles das in Worte zu fassen strebt[e], was er bey jener Composition tief im Gemüthe empfand": "Beethovens Musik bewegt die Hebel des Schauers, der Furcht, des Entsetzens, des Schmerzes, und erweckt jene unendliche Sehnsucht, die das Wesen der Romantik ist" (ebd. Sp. 631). Die von E.T.A. Hoffmann empfundene "unendliche Sehnsucht" war kein Affekt im Sinne der antiken Rhetorik, sondern ein Weltgefühl, eine atmosphärische Stimmung, die sich zwar metaphorisch beschreiben, aber nicht begrifflich fassen ließ.

Friedrich Ludwig Bührlen.
Friedrich Ludwig Bührlen.

Der Schriftsteller Friedrich Ludwig Bührlen (1777-1850) stellte in seinen "Reflexionen über das Wesen der Musik" (1815) die Musik als Stimmungsmalerei der Wortsprache gegenüber: "Die Musik ist nicht im Stand, wie die Wortsprache, der Unzahl der Objecte und ihren Eigenschaften Namen zu schöpfen, und ihren oft so gleichgültigen Verkehr zu bestimmen. Dafür läuft sie auch nie Gefahr, in die Prosa zu verfallen. Sie kennt nicht die mathematischen Winkel und Linien, mit denen der Verstand alle Ecken der Dinge ausmisst; sie beschreibt die Wellenlinien, auf denen das Gemüth durch das unten wogende Leben getragen wird. (...) Sie tönt also nicht nachahmerisch den in der Wirklichkeit tönenden Gegenstand nach, sondern sie übersetzt zuvor, auf eine freylich ziemlich mystische Weise, das ganze Leben der Welt in eine Welt der Töne. (...) Die Musik behalte also ihren Charakter der Nichtbestimmtheit, und theile mit Glauben, Liebe, Ahnung, Gefühl, Leidenschaft sich in das geheimnisvolle Reich des Unbestimmbaren, Grenzenlosen, Unendlichen" (AMZ 17/1815, Sp. 778f.).

"So hört auch die Wortsprache, wiewol nur in seltnen Fällen auf, Sprache zu seyn, und wird zur Sache selbst; - in leidenschaftlichen Ekstasen, beym Flüstern entzückter Liebe etc. Bey der Musik ist dies aber bleibender Charakter. Sie benennt und bezeichnet nie, sie malt vielmehr stets den Zustand des Gemüths, wenn der Gegenstand in der fühlbarsten, wirklichen oder geistigen Nähe mit ihm in Beziehung tritt" (ebd. Sp. 779). "Mehr als irgend eine andere Sprache und Darstellung will die Musik uns ganz. Sie tönt zunächst an unser eigenstes Leben, sie sucht es aber bis auf den Punkt zu erregen, wo es sich ins All-Leben verliert." "Die Musik spricht nicht sowol selbst das Höchste aus, (wiewol andere Sprachen können dies eben so wenig,) als vielmehr, sie löst durch ihre magischen Kräfte die Bande der Seele, und trägt die Befreyte auf den Wogen ihrer Harmonie hoch empor, dass sie das Höchste in ihr Vollgefühl aufnehmen kann" (ebd. Sp. 783).

Johann Nepomuk Hummel. Kupferstich von F. X. Stöber.
Johann Nepomuk Hummel. Kupferstich von F. X. Stöber.

Der Paradigmenwechsel von der klassischen zur romantischen Musikästhetik führte zu einem veränderten Verständnis von musikalischer Interpretation. Ging es im 18. Jahrhundert um die "Deutlichkeit in der Ausführung" und den "Ausdruck des herrschenden Charakters" an, so stand im 19. Jahrhundert der emotionale und individuelle Ausdruck des Interpreten im Vordergrund. Der musikalische Vortrag sollte "schön" sein.

Ein erster Ausdruck romantischer Musikästhetik findet sich in der "Anweisung zum Piano-Forte-Spiel" (1828) von Johann Nepomuk Hummel (1778-1837). Hummel forderte den Interpreten auf, bei der musikalischen Darstellung allein seinem Gefühl zu folgen: "Ausdruck bezieht sich unmittelbar auf das Gefühl, und bezeichnet im Spieler die Fähigkeit und Fertigkeit, was der Komponist für das Gefühl in sein Werk gelegt hat, und der Spieler ihm nachempfindet, nun auch in sein Spiel und dem Zuhörer an's Herz zu legen, was auch nicht einmal angezeigt werden kann" (Hummel 1828, S. 417). "Wie weit aber das rechte Maass gehe und wo der rechte Ort sei: das muss der innere Sinn und das eigene Gefühl weit bestimmter angeben, als irgend eine Regel oder Lehre" (Hummel 1830, S. 427). Um ein musikalisches Werk "schön" aufführen zu können, musste der Interpret zwei Eigenschaften mitbringen: Erstens müsse er "jeder möglichen Abstufung des Tonanschlags fähig sein" und zweitens "den Charakter jedes seiner Tonstücke" studieren, "sonst kann er unmögIich, ihn, diesen Charakter, im Ganzen des Stücks, und dann die besondern Modificationen desselben, im Verlaufe des Stücks, wie der Komponist beides bei seiner Tondichtung im Sinne hatte, und die Einsicht und Empfindung des Spielers und Zuhörers mitzutheilen wünschte, in sein Spiel legen und durch dasselbe in diesem erwecken" (ebd. S. 427).

Louis Spohr. Stich von J. Roux.
Louis Spohr. Stich von J. Roux.

Auch für Louis Spohr (1784-1859) sollte Musik vor allem schön sein. In seiner "Violinschule" (1832) fasste er Hummels Lehre vom schönen Vortrag pointiert zusammen: "Hierauf muss sich aber auch die ganze Lehre vom schönen Vortrag beschränken, da das, was den richtigen zum schönen erhebt, nämlich die Fähigkeit, den Charakter des vorzutragenden Musikstückes zu erkennen und den darin herrschenden Ausdruck nachzuempfinden und wiederzugeben, ein angebornes Geschenk der Natur ist, das wohl erweckt und weiter ausgebildet, aber nicht gelehrt werden kann" (Spohr 1832, S. 195). Zu den Ausdrucksmitteln eines schönen Vortrags zählte Spohr das fein nuancierte Spiel, das Glissando, das Vibrato und das Rubato: "Alle diese Ausdrucksmittel werden aber erst dann zum schönen Vortrage führen, wenn der gute Geschmack über deren Anwendung wacht und die Seele des Spielers den Bogen führt und die Finger belebt" (ebd. S. 196).

Es ist nicht verwunderlich, dass zur Zeit Hummels und Spohrs das Bravourvirtuosentum einen rasanten Aufschwung nahm. Denn die Fähigkeit des Künstlers, seine innere Gefühlswelt in allen Nuancen virtuos auszudrücken, stand nun im Mittelpunkt des Konzertlebens. Vor allem ein Virtuose begeisterte die Massen: Nicolò Paganini (1782-1840). Carl Wilhelm Ferdinand Guhr beschrieb Paganinis Kunst des Violinspiels folgendermaßen: "In den Tönen seiner Melodieen ist sein Leben rege und wach, finden wir stets sein Ich, seine Individualität. Die Trauer, die er empfunden, das Sehnen, das sein Wesen durchzieht, die Freude, die sein Herz durchzuckt, die Leidenschaft, die seinen Puls rascher jagt, sie alle fliessen in seinen Vortrag über; und wenn uns der Dichter in seinen Gebilden die idealisirte Aussenwelt vor die Sinne führt, so ist Paganini der Künstler, welcher die Welt um sich vergisst und sein eigenes Leben, wie es von Leiden durchfurcht, von Freude geglättet wurde, in Tönen wiedergebiert. Wer sein Spiel kennt, kennt auch ihn genau. Es ist im höchsten Grade subjectiv-lyrisch und stets ein Abbild des Künstlers selbst" (Guhr 1829, S. 60).

Wie schwer es war, Paganinis Gefühlswelt und die emotionale Wirkung seines Spiels in Worte zu fassen, zeigen die Erinnerungen der Schauspielerin Karoline Bauer, die im März 1829 die Gelegenheit hatte, den Maestro in der Berliner Oper zu hören: "Er setzte die Geige an -- und wie bezaubert, athemlos lauschte die tausendköpfige Menge! Er ließ den Bogen sinken - und ein Orkan von Jubel und Händeklatschen raste durch das Haus, wie ich etwas Aehnliches selbst bei den Triumphrollen der Sontag nicht gehört hatte. Wie Paganini spielte? Bald wie ein Engel bald wie ein Dämon - nicht wie ein sterblicher Mensch. Solche Töne sind noch nie einer Violine entlockt worden. Es waren eigentlich gar keine Geigentöne; sie klangen wie Sturmgrollen - wie Meeresrauschen - wie Posaunenschall - Schlachtendonner ... wie Glockenklang und Vogelsang! - wie Menschenangst und Verzweiflung - wie Aechzen und Seufzen und Wimmern und Weinen ... Und wenn seine G-Saite klagte - dann kamen den lauschenden Menschenherzen Thränen - in Wehmuth und in Lust ... Sein Spiel wirkte, wie Wetterleuchten in dunkler Nacht ..." (Bauer, K.: Nachgelassene Memoiren 2. Berlin 1880, S. 81).

3 Die Epoche Beethovens und Rossinis

Die Musik des 18. Jahrhunderts orientierte sich in erster Linie an allgemeinen, sprachlichen Gestaltungsprinzipien, die Musik des 19. Jahrhunderts an der inneren, nicht in Worte zu fassenden Gefühlswelt. Dieser Wandel im Musikverständnis vollzog sich nicht schlagartig, sondern allmählich. In der napoleonischen Zeit dominierte die klassische Formensprache. Haydn und Mozart waren die maßgeblichen Komponisten. Von 1815 bis zum Tode Beethovens 1827 und Schuberts 1828 bildeten Klassik und Romantik eine gemeinsame, klassisch-frühromantische Epoche. So finden sich in Beethovens Werken romantische und in Schuberts Kompositionen klassische Elemente. Erst nach Beethovens und Schuberts Tod begann der Übergang zur eigentlichen Romantik, die sich von der Regelhaftigkeit der klassischen Formensprache abwandte und den Eigenwert des Individuellen beschwor.

Raphael Georg Kiesewetter. Lithographie von F. Herr. 1841.
Raphael Georg Kiesewetter. Lithographie von F. Herr. 1841.

Wenn wir heute von frühromantischer Musik sprechen, denken wir meist an die Musik von Franz Schubert, der als der bedeutendste Vertreter der Frühromantik gilt. In der Epoche der Frühromantik standen jedoch andere Komponisten im Vordergrund. Der Musikhistoriker Raphael Georg Kiesewetter (1773-1850) bezeichnete die Epoche, in der er lebte, als "die Epoche Beethovens und Rossini's" (Kiesewetter 1834, S. 97). Franz Schubert erwähnt er in seiner "Geschichte der europäisch-abendländischen oder unsrer heutigen Musik" (1834) mit keinem Wort. Dies ist umso erstaunlicher, als Kiesewetter zu Schuberts Lebzeiten in Wien lebte. Offensichtlich konnte sich der Musiktheoretiker dem seit 1817 in Wien grassierenden Rossini-Fieber nicht entziehen. Nicht die lyrisch-introvertierte Musik Schuberts, sondern die virtuose Belcanto-Musik Rossinis begeisterte ihn.

Aber nicht nur für Beethoven und Rossini fand Kiesewetter lobende Worte. Auch für Haydn und Mozart hatte er uneingeschränktes Lob übrig, durch sie sei "die Tonkunst in allen Fächern zur höchsten Vollkommenheit gediehen" sei (ebd. S. 96). Die zeitgenössischen Komponisten sah er vor allem damit beschäftigt, die Klassiker um jeden Preis zu übertreffen. So habe "deren Virtuosität ... einen Grad erreicht ..., der die Möglichkeit einer weiteren Steigerung kaum noch denken lässt" (ebd. S. 97). Kiesewetter sah die Gefahr, dass die Musik zu einer kurzatmigen Effekthascherei degeneriere, deren emotionale Wirkung sich schnell abnutze: "... man überbot die Vorgänger und überbot sich selbst in dem Ringen nach Effecten; ein gefährlicher Luxus schlich sich ein; (...) ein übermässiger Gebrauch der Kunstmittel verwöhnt sehr bald die Zeitgenossen; ihre Wirkung ist nicht bei jeder wiederholten Erscheinung mehr dieselbe" (ebd. S. 98).

4 Der Aufschwung der Romantik

Erst nach Beethovens Tod 1827 setzte sich die eigentliche Romantik im allgemeinen Konzertleben durch. Die Musik löste sich von der klassischen Formensprache und wandelte sich zu einer lyrischen, nach innen gerichteten Stimmungspoesie. Eine typische Form der hochromantischen Musik war das einsätzige Charakterstück: ein kurzes Musikstück mit einem poetischen Titel, der den Stimmungsgehalt des Werkes charakterisierte. Die wichtigsten Komponisten, die die Epoche der Hochromantik prägten, waren Robert Schumann und Frédéric Chopin.

5 Die Entwicklung der Gitarrenmusik von der Klassik zur Romantik

Die Entwicklung der Gitarrenmusik von 1800 bis 1848 folgt der allgemeinen musikalischen Entwicklung. Dementsprechend lassen sich drei Phasen unterscheiden, in denen sich der Paradigmenwechsel von der Klangrede zur Stimmungsmalerei in der Gitarrenmusik vollzog: eine klassische, eine klassisch-frühromantische und eine romantische Phase. Um ein Gitarrenstück des frühen 19. Jahrhunderts authentisch interpretieren zu können, muss es zunächst geschichtlich verortet werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das musikalische Paradigma der Klangrede keineswegs nur am Anfang des musikalischen Entwicklungsprozesses stand, sondern diesen auch lange Zeit begleitete. Man sollte daher mit einer romantisierenden Interpretation der Werke aus dieser Zeit zurückhaltend sein und sich zunächst an den im 18. Jahrhundert geprägten rhythmisch-metrischen und melodischen Vorstellungen orientieren und dann prüfen, inwieweit romantische Gestaltungsprinzipien bei der Interpretation berücksichtigt werden können. Diese Vorgehensweise empfiehlt sich umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Gitarrenmusik die musikalische Entwicklung ihrer Zeit nicht vorantreibt, sondern ihr folgt.

1) Die Gitarristik der napoleonischen Zeit stand noch ganz in der musikalischen Tradition des 18. Jahrhunderts. Carulli, Giuliani, Sor und andere Gitarristen der ersten Generation griffen in ihren Kompositionen auf die klassische Formensprache zurück. So legte Simon Molitor 1806 eine „Große Sonate für Guitarre allein“ (op. 7) als "Muster einer solidern Komposizion für die Guitare" vor. Die Sonate ist klassisch aufgebaut: Auf eine kurze Einleitung (Adagio) folgten ein erster Satz in Sonatenform (agitato ma non troppo allegro), ein langsamer Satz (Andante), ein Menuett (Menuetto allegrotte) und ein Finale in Rondoform (Rondo allo Moderato). Und Fernando Sor analysierte in seiner "Méthode pour la Guitare" (1830) Vokalwerke von Paisiello, Haydn, Mozart und Cherubini, um seinen Schülern zu zeigen, wie eine professionelle Gitarrenbegleitung auszusehen habe (Sor 1830, S. 61ff.).

2) In der nachnapoleonischen Zeit waren eingängige Melodien, mitreißende Virtuosität und populäre Unterhaltungsmusik gefragt. Den größten Einfluss auf die Gitarrenmusik übten Gioachino Rossini und Niccolò Paganini aus. Vor allem italienische Gitarristen komponierten Potpourris oder Variationen über Themen aus Rossinis Opern im Belcanto-Stil. Dynamische Temposteigerungen, schnelle Passagen, Appoggiaturen und Glissandi waren typisch für die Gitarrenmusik der 1820er und 1830er Jahre. Luigi Legnanis 36 Capricen (op. 20) waren höchstwahrscheinlich von Paganinis 24 Capricci (op. 1) inspiriert, die 1820 bei Ricordi in Mailand erschienen waren. Legnani setzte mit seiner virtuosen Spieltechnik neue Maßstäbe. Seine Kompositionen forderten das ganze Können des Spielers: hohes Spieltempo, schwierige Akkorde, große Intervallsprünge und volle Ausnutzung des Tonumfangs. Weitere bekannte Gitarrenvirtuosen dieser Zeit waren Marco Aurelio Zani de Ferranti und Trinidad Huerta.

3) In den 1840er Jahren trat eine neue Generation von Gitarristen auf den Plan: Napoléon Coste, Johann Kaspar Mertz und Giulio Regondi. Mit ihnen hielt die Romantik Einzug in die Gitarrenmusik. Vor allem die Gitarrenkompositionen von Johann Kaspar Mertz weisen Ähnlichkeiten mit der Klaviermusik von Schumann und Chopin auf. Die Gitarrenstücke erhielten poetische Titel, die auf den Stimmungsgehalt der Stücke hinwiesen, z.B. "Unruhe", "Wasserfahrt am Traunsee", "Erinnerungen an Ungarn". Das Thema mit Variationen wurde durch die Fantasie ersetzt. Die Gitarrenmusik wurde ganz zur Stimmungsmalerei. Auch Dionisio Aguado ließ in seiner Gitarrenschule erkennen, dass sein Musikverständnis ein romantisches war. Er hielt zwar am Konzept der Klangrede fest, betonte aber gleichzeitig, dass die Sprache der Musik dunkel und unartikuliert sei und ihre Regeln im Herzen lägen: "In der Vokalmusik gibt in der Regel der Text den Akzent an, der ihm entspricht; aber in der Instrumentalmusik ist das nicht der Fall. Obwohl letztere eine Nachahmung der ersteren ist, hat sie dennoch eine unartikulierte Sprache, die wiederum dunkler ist. Aus diesem Grund ist der Komponist, nachdem er die musikalischen Phrasen und Perioden so angeordnet hat, wie es ihm am besten erscheint, in der Instrumentalmusik mehr als in der Vokalmusik gezwungen, bestimmte Hauptpunkte hervorzuheben (...). Der Ausführende hat, ohne sich von den für ihn bestimmten Hauptpunkten zu trennen, immer noch ein sehr weites Feld, um sein Genie zu zeigen, indem er in den Tönen ein kontinuierliches Hell-Dunkel herrschen lässt, ähnlich den Akzenten der ausdrucksvollen Sprache, deren Regeln im Herzen liegen und nirgendwo anders zu finden sind" (Aguado 1843, § 289 übers.).